Nicht nur bei ihm, auch bei Oehmigke & Riemschneider und bei Friedrich Wilhelm Bergemann in Ruppin, der Fontanestadt, die außer ihrem märkischen Wanderer noch Anderes zu bieten hat. Die Bilderbogen. Der Journalist Theodor F. konnte nicht umhin, ihnen und dem Großmeister der bunten Blätter Gustav Kühn (1794–1868) ein Kapitel in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg; die Grafschaft Ruppin“ zu widmen. Es ist voller Lob und Bewunderung: „Was ist der Ruhm der Times gegen die zivilisatorische Aufgabe der Bilderbogen?“, hub F. rhetorisch fragend an, um das Gewicht seiner Antwort noch zu verstärken: „Lange bevor die erste ‚Illustrierte Zeitung‘ in die Welt ging, illustrierte der Kühnsche Bilderbogen die Tagesgeschichte, und was die Hauptsache war, diese Illustration hinkte nicht langsam nach, sondern folgte den Ereignissen auf dem Fuße. Kaum, daß die Tranchéen (Schützengräben – R.H.) vor Antwerpen* eröffnet waren, so flogen in den Druck- und Kolorierstuben zu Neu-Ruppin die Bomben und Granaten durch die Luft […].“
Diese anschaulichen, kolorierten Bilderbogen brachten die Tagesgeschehnisse aufs Papier und unter die Leute, sie bedienten Zeitgeist und Interessen der Menschen in Stadt und Land, vermittelten Wissen und Unterhaltung; sie erfreuten die Sinne, weckten Reiselust, spielten mit den Gefühlen, sie verzichteten auch nicht auf Kritik und feinverpackte Moral und befriedigten die Sensationsgier.
Der Ideengeber und erste Produzent hieß Johann Bernhard Kühn, Buchdrucker zu Neuruppin. Seine Bilderfolgen erschienen um 1810 in der Holzschnitttechnik. Sohn Gustav übernahm später das Geschäft, modernisierte und arbeitete durch Anschaffung einer Lithografie-Presse mit dem Steindruck. Das erlaubte hohe Auflagen bei gleichbleibender Qualität. – Gustav Kühn, der Vielbegabte, lebte für den Bilderbogen. Als ausgewiesener, erfahrener Drucker und guter Zeichner gestaltete er viele der Motive selbst und versah sie zum Teil mit eigenen Texten und Gedichten. Sein kaufmännischer Sinn tat das Übrige. Die Firma trug den Ruf weit über die Grenzen der Stadt hinaus. Man sprach nun von den „Ruppiner Bilderbogen“, woran die beiden anderen Hersteller ebenfalls ihren Anteil hatten.
Die größte deutsche Sammlung dieser Raritäten aus dem 19. und 20. Jahrhundert verwahrt das Museum Neuruppin. Der Besitz umfasst mehr als 12.000 Blätter, wovon allein 7.500 zu den „Ruppiner Bilderbogen“ zählen. Der Besuch des Museums und die große Schau verschaffen Erbauung und Vergnügen.
In den Bilderbogen zur „Naturgeschichte“ wimmelt es von Getier einheimischer und exotischer Herkunft. Käfer, Kaltblüter, Säuger, Vögel und Schmetterlinge. Nicht immer systemgetreu bezeichnet (wer kennt den Maiwurm, die Gemüseeule und das Damenbrett?), doch bunt und lebendig in der Darstellung. – Die Weidetiere treten auf: Rinder, Schafe, Ziegen, allesamt wohlgenährt, zufrieden mit sich und der Welt. Unter den Haustieren erhält der Hund, unser verlässlicher Gefährte, einen Extra-Sonder-Bilderbogen: „Der Hund in seinen Beschäftigungen.“ Man staunt, was das brave Tier kann. Im Zirkus: „Sein Brot verdienen muß der Hund, / Durch Reifenspringen tut er’s kund.“ Als Lebensretter. Ein Kind ist ins Wasser gefallen. Am Ufer steht seine Mutter, reißt die Arme in die Höhe und schreit entsetzt: Leute lauft, es ersauft! Nein, es ersauft nicht! „Ins Wasser fiel das Kind, o Graus! / Der Karo holt es schnell heraus.“ Das Rassetier: „Der Windhund liegt auf weichem Lager, / Und bleibt als Windhund immer mager.“ – Wohlverdient erhält das Pferd ebenso einen Bilderbogen für sich: „Das Leben eines Pferdes.“ Die Stute und das hochbeinige, staksige Fohlen; die erste Dressur; Pferd und Reiter auf der Reise, beim Hufschmied, beim Kunstreiten und im Kriege. Der Schimmel, von einem forschen Dragoner mit wehendem Helmbusch auf Kandare geritten, galoppiert in die Schlacht. Und zwei feurige Araberhengste traben vor einer Staatskarosse.
Bei der Klassifizierung der „Verschiedenen Affen:“ bekomme ich Schwierigkeiten. Sie schauen mich mit großen Augen an und heißen: Hutaffe, Kleideraffe, Schlankaffe, Moni oder auch Maki und Mokoko – Um der Vorstellungskraft aufzuhelfen, sind bei manchen Tieren die Größenverhältnisse angegeben. Nilkrokodil: 1/36 der natürlichen Größe; Anakonda 1/8 der natürlichen Größe. Obgleich als kleine Bilder gestaltet, sehen die beiden gefährlich aus.
Früchte und Blumen in Fülle. Von Aurikel bis Rose, von Narzisse bis Kaiserkrone. Als Stillleben mit Insekten und Schmetterlingen (ein wenig von Maria Sibylla Merian abgeguckt), zu Kränzen geflochten, zu Sträußen gebunden, mit Versen und Gedichten versehen und von tiefsinniger Bedeutung getragen: „Die Männertreue ist sehr schön, / Man kann sie oft im Garten seh’n.“ „Ein schönes Futter ist der Klee, / Für Pferd u. Kuh, für Schaf u. Reh.“ „Und bricht mir auch das Herz entzwei, / Es bleibt in Stücken dir noch treu.“ – Auf einem Bilderbogen „Die Sprache der Blumen“. Das Merkblatt für jede Gelegenheit. Die Tulpe: „Laß Dich umarmen.“ Die Erdbeere: „Hüte Dich vor Amor.“ Das Radieschen: „Ich bin Dein Sklave.“ Die Distel: „Du bist mir zuwider.“ Die Iris: „Warum so kalt?“ Man wähle.
Alles nur Denkbare wird bildhaft dargestellt: „Die schlafende Jungfrau“, von einem Jüngling lüstern betrachtet, erinnert an die biblische „Susanna im Bade und die beiden Alten“. – Städte: London – eine große Segelparade auf der Themse und aktuelle Stadtinformationen: „[…] 20 bis 30.000 Menschen stehen hier täglich auf, ohne zu wissen, wovon sie den Tag über leben sollen“ (aus dem Jahr 1860). Landschaften. Der Harz lädt zum Wandern ein und die Rheingegend zu einer Flußfahrt. – Überschwemmungen, Raubüberfälle, Selbstmorde. – „Allerlei kleine Bilder zum Ausschneiden für Kinder“; das ABC von Affe bis Zwiebel. Und noch Vieles mehr.
Ich erwerbe einige Bilderbogen (Kopien!), darunter auch diesen: „Zum Geburtstage des Vaters und der Mutter von ihrem dankbaren Kinde.“ Die Gratulation ist von einem ovalen Blütenkranz umwunden und lautet:
„Geliebte Mutter, Heil und Segen
Begleite Dich auf allen Wegen;
Mög’ oft das Fest noch wiederkehren
Und unser Aller Freude mehren;
Ich will auch artig, folgsam sein,
Durch treue Liebe Dich erfreun.“
Der Text kann auch gesungen werden auf die Melodie „Kommt ein Vogel geflogen“ in leicht abgewandelter Form und gilt als mögliche Alternative für das ewige „Happy birthday to you“.
* – Die Belagerung von Antwerpen im Jahre 1832 war der letzte militärische Akt der Belgischen Revolution zur Abspaltung von den Niederlanden. Dabei wurde die von den Niederländern gehaltene Zitadelle von Antwerpen durch ein französisches Heer erobert, das die Belgier unterstützte.
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