Die erste Corona-Literatur liegt bereits vor. Julian Pörksen (geb. 1985) ist Dramaturg, Regisseur, auch Dramatiker und Essayist, er erhielt 2018 den Förderpreis der DEFA-Stiftung. Seine Erzählung mit „Episoden aus dem stillgelegten Leben“, so der Untertitel, nannte er „Brief an die Kanzlerin“, der neugierig macht, aber mehr verspricht, als er hält. „Suppe mit der Kanzlerin“ (so auf Seite. 84) wäre treffender, denn sein Text ist etwas suppig. Er serviert eine recht gemischte Brühe, klar, mit ein paar Brocken darin, und auch einige Fettaugen sind nicht zu übersehen. In einem leichten, selbstironischen Ton, der mitunter an Jens Sparschuh erinnert, lässt er in 17 Kapiteln einen etwa 40-jährigen alleinstehenden Mann erzählen, dessen Name nicht verraten wird, weil er verwirrend viele Konsonanten enthält, und der sich das Pseudonym Coesfeld gibt. Die Kontaktsperren („Es ist ernst. Nehmen Sie es ernst!“) veranlassen ihn, die Wohnung wochenlang vor Angst nicht zu verlassen, was zu absonderlichen Situationen führt: „Messe stündlich Fieber. (…) Nehme täglich meinen Atem mit einem Tongerät auf und höre ihn mir auf den großen Boxen an, um zu prüfen, ob da ein Kratzen oder Pfeifen drauf ist.“ Neben dem Internet ist die Gala das einzige Medium, das ihn tröstet, weil es Boris Becker noch schlechter geht als ihm. Die verbotenen Reisen versucht er, in der Wohnung zu imaginieren. So stellt er sich England vor, indem er sich einen Earl Grey kocht, sich in Regenkleidung unter die Dusche stellt und dem Prasseln des Wassers lauscht. Im Netz bestellt der Held Sand, Kokosnüsse, eine Hängematte und vieles mehr, um Brasilien auf dem Balkon herzustellen. Das hat absurden Witz und verrät Phantasie. Aber wenn er tatsächlich einen Brief an die Frau Dr. Bundeskanzlerin schreibt, artet es in eine phantasievoll ausgeschmückte Autobiografie ohne jeglichen Bezug auf die Regierungsarbeit aus. Im zweiten Teil traut sich Coesfeld dann auf die Straßen, aber auch hier erschöpft sich die Erzählung weitgehend in der Wiedergabe seiner Beziehung zur Chat-Bekanntschaft Sue32, launig, mit vertracktem Humor angereichert, aber der erhoffte Schritt zur Satire bleibt aus. Ein wenig entschädigen die beigefügten Karikaturen des Wieners David Kellner dafür.
Julian Pörksen: Brief an die Kanzlerin. Alexander Verlag, Berlin 2020, 144 Seiten, 10,00 Euro.
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Immer wieder wird versucht, die Werke des jüdischen Autors und Herausgebers Hugo Bettauer, eines frühen Vertreters der Neuen Sachlichkeit in der Literatur, der Vergessenheit zu entreißen. Weitgehend in Erinnerung durch die Filmadaption von G. W. Pabst mit Greta Garbo und Asta Nielsen ist „Die freudlose Gasse“ von 1925. Das Ende der Dreharbeiten erlebte der Autor nicht mehr. Er wurde 52-jährig nach einer wochenlangen Medienkampagne in Wien von einem Nazi erschossen, der gerichtlich freigesprochen wurde und sich noch fünf Jahrzehnte später im ORF der „Auslöschung“ Bettauers rühmte. Bettauer war ein Freigeist, propagierte Aufklärung und Freizügigkeit in Geschlechterfragen und versuchte, das Selbstbewusstsein seiner jüdischen Mitbürger zu stärken. Kernstück dessen war der 1922 erschienene, den Antisemitismus ad absurdum führende Roman „Die Stadt ohne Juden“, der 1924 verfilmt wurde. Der Regisseur Hans Karl Breslauer, der nach diesem Film nur noch publizistisch arbeitete und später Mitläufer der Nazis wurde, griff die von Bettauer in einem „Übermorgen“ angesiedelte Geschichte auf, ohne die konkreten Bezüge zu Parteien und Politikern, die im Roman genannt sind, zu übernehmen. Klar ist: Die Wiener Bevölkerung in Utopia leidet durch Inflation bitteren Mangel und weist die Schuld daran den Juden zu. Der (namenlose) Bundeskanzler, anfangs neutral, stellt sich populistisch an die Spitze dieser Bewegung und lässt die jüdische Bevölkerung per Bahn und per pedes aus der Stadt bringen. In der Folge blutet die Stadt aus, kommen Handel und Kultur zum Erliegen, so dass man die Juden inständig um Rückkehr bittet. Unter den Hauptdarstellern heute noch in Erinnerung sind Johannes Riemann als junger Jude (der nach 1933 in vielen Ufa-Tonfilmen spielte) und Hans Moser in seiner ersten großen Filmrolle, in der er als fanatischer Antisemit am Ende den Verstand verliert.
Der Film, der naturalistische und expressionistische Elemente künstlerisch mehr schlecht als recht verbindet, löste bei seiner Vorführung in Deutschland ab 1926 mehrfach von Nationalsozialisten geschürte Krawalle aus. Noch 1933 lief der Streifen mit gegen Nazi-Deutschland gerichteter Intention in Amsterdam. Danach war er zwar nicht verschollen, aber nur noch in Fragmenten erhalten. Erst 2015 gelangte eine weitgehend vollständige Kopie ins Filmarchiv Austria. Das Werk wurde gemeinsam mit dem deutsch-französischen Sender Arte rekonstruiert und neu vertont – ambitioniert, aber auch etwas vordergründig. Diese Fassung ist seit kurzem auf DVD erhältlich. Im Beiheft findet sich ein aufschlussreicher Aufsatz von Elfriede Jelinek, die auch die Musik der Neueinspielung von Olga Neuwirth hervorhebt.
Die Stadt ohne Juden. Regie Hans Karl Breslauer, Österreich 1924, DVD bei absolut MEDIEN in der ARTE Edition, 14,90 Euro.
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