23. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2020

Geschlossene Gesellschaft

von Angelika Leitzke

Irgendwann muss auch mal Kunstpause sein. Wenn die Gemäldegalerie am Kulturforum ihre Pforten schließt, alle Besucher gegangen sind und die Putzkolonne verschwunden ist.

Der geschundene Christus steigt vom Kreuz herab, reckt seine Glieder und trinkt einen Eimer Wasser. Der Heilige Sebastian befreit sich vom Marterpfahl und zieht sich aus dem Fleisch die Pfeile, mit denen man ihn durchbohrt hat. Judith setzt Holofernes das abgeschlagene Haupt wieder auf und gibt ihm einen dicken Kuss, währenddessen ihre Magd die Bettwäsche zur Reinigung schafft. Maria gähnt und legt das Jesuskind in die Arme ihrer Freundin Magdalena, weil sie unbedingt ausschlafen muss. Der Heilige Josef rasiert sich, damit die Restauratoren bei den Bildern, in denen er vorkommt, nicht so viel zu tun haben.

Adam und Eva klettern aus dem Bild, ziehen sich, weil es sie friert, die Bademäntel über und machen ein paar Gymnastikübungen. Bis morgen früh müssen sie wieder fit sein, da sie als Motiv bei den Besuchern sehr beliebt sind. Die Paradiesschlange verzehrt schnell den Apfel und kriecht hinterher, um es sich auf einer der Fensterbänke bequem zu machen, so dass sie sich endlich den Mond anschauen kann. Die vom Jungbrunnen bleiben lieber im Wasser, weil sie sich dort weiterhin die ewige Jugend erhoffen.

Die vornehmen Damen und Herren aber, eingezwängt in Korsett, Halskrause, schleppende Gewänder, in schwere Stiefel und spitze enge Schuhe, schwitzend unter Perücken, Hauben und ausladenden Hüten, gehen zur Garderobe, um die Klamotten zu wechseln: tief durchatmen in T-Shirt, Jogginghose, Sweatshirt und Sneakers. Die Spukgestalten entledigen sich ihrer unbequemen Kostüme und nehmen ihre natürliche Größe wieder an.

Nur die kleinen Putti fühlen sich weiterhin nackt pudelwohl und sind froh, dass sie nicht am Himmel posieren müssen und stattdessen spielen dürfen. Die Soldaten legen Rüstzeug und Gewehre nieder, um sich ein kühles Bier zu genehmigen. Die Musikanten stimmen ihre Instrumente: Fiedel, Flöte, Laute, Leier, Orgel und Spinett. Der Mann mit dem Goldhelm gibt seine wahre Identität preis.

Ansonsten wird die gesamte Belegschaft über Nacht nicht verhungern: Es gibt genügend zu essen, nachdem die Niederländer zum Ausschlachten frei gegeben sind: Weintrauben, Birnen, Äpfel, Kirschen, Orangen, buntes Gemüse, fettes Weißbrot, feinster Fisch, bestes Wildbret, prächtiger Wein stehen bereit. Für die Ladys selbstverständlich auch Tee, Schokolade und exquisiter Kuchen.

Ochs und Esel im heiligen Stall zu Bethlehem bekommen anständiges Heu zu fressen und nicht diese dürren Strohhalme aus öden Pinselstrichen. Das Vieh von der Weide grast gemütlich in den Sälen der Galerie. Irgendeiner vom Bildpersonal kommt auf die Idee, die Blumen in den Stillleben zu gießen.

Spielkarten, Schachfiguren, Würfel und Backgammon werden ordentlich aufgeräumt. Die Wogen des stürmischen Meeres glätten sich, das Ateliergewitter pausiert, und die Seeleute gehen an Land, um mal eine Nacht durchzumachen.

Denn die auf den 29. August 2020 angesetzte lange Berliner Museumsnacht für die breite Öffentlichkeit findet aufgrund der Corona-Pandemie nicht statt.