Urschalling, das kleine Dorf mit dem lustigen Namen. Als Ortsteil der oberbayerischen Gemeinde Prien am Chiemsee zugeordnet und auf einer Höhe von weiter Umschau angesiedelt. Nur wenige Gehöfte und Wohnhäuser, ein traditionsreiches Wirtshaus und die spätromanische Kirche „Sankt Jakobus der Ältere“. Darin eine Ausstattung von unschätzbarem Wert. Fresken. Aus romanischer und gotischer Zeit, in Erdfarben aufgetragen.
Das mächtige und besitzreiche Grafengeschlecht der Falkensteiner errichtete im 12. Jahrhundert auf der Anhöhe von Urschalling eine Wehranlage mit einer an die Wallmauer gelehnten Burgkapelle. Die hohe Warte verschwand, die Kirche und ihre Kostbarkeiten blieben. Lediglich im Westteil des sakralen Gebäudes erinnert der Unterbau eines ehemaligen Wehrturmes an vergangene Tage.
Ich öffne die schwere Holztür – und bin inmitten der Bilderwelt von Geschichten und Gesichtern aus dem Alten und Neuen Testament. In dezenten, hellen, jedoch von unvergleichlicher Leuchtkraft gehaltenen Farben. Gelbbraun, rötlich, gedämpftes Blau und Grün. – Erst ab 1932 begann man in aller Vorsicht die Fresken aus dem 14. Jahrhundert von den vielen Übertünchungen zu befreien. Dabei stieß man auf die Malereien aus der Gründungszeit des Kirchenbaues. Beließ es aber bei der Freilegung nur eines Fragmentes: „Adam und Eva nach dem Sündenfall“. Es hätte sonst die Zerstörung der darüber liegenden gotischen Fresken bedeutet. – Die „Ureltern“ stehen betroffen unter dem Baum der Erkenntnis mit seinem überreichen Früchteangebot. Verschämt halten beide ihr Feigenblatt, und Adam fragt ratlos: Was nun, Frau Eva?
Die gotische Malerei, vorrangig für Leseunkundige gedacht, erzählt fortlaufend die Heilsgeschichte. Spannend und lebendig. Märtyrer, Evangelisten; und die Jünger Jesus‘ unter sich. Eine diskutierfreudige Runde. Man möchte gern erfahren, was sie in Begeisterung, Streitlust und Besonnenheit versetzte.
Etwas fehlt noch. Ein Wunder! Die Falkensteiner verehrten Jakobus den Älteren als ihren Schutzpatron. Demnach muss er ein das Volk in Staunen versetzendes Wunder vollbracht haben. Neben dem Turmeingang der Kirche ist es auf anschauliche Weise dargestellt. Ein Jüngling in Reisekleidung und mit wetterfestem Hütchen. Um seinen Hals liegt eine Schlinge, das Ende ist über den Querbalken des Galgens gezogen. Ein Gehenkter! Doch das Seil liegt sehr locker auf. Mit Hilfe dieser Praxis kann der Verurteilte kaum aus dem irdischen Leben scheiden. Seine Gesichtszüge wirken entspannt. Die großen Augen blicken zuversichtlich und gottvertrauend in die Ferne. Es scheint, als sei er mit sich und der Welt im Reinen.
Die Geschichte von der vereitelten Himmelfahrt. Niedergeschrieben in der Legendensammlung des Jacobus de Voragine (um 1230–1298). Im Jahr 1020 (ein Jubiläumswunder!) pilgerten Vater und Sohn aus deutschen Landen zum heiligen Jakobus nach Santiago de Compostela. In Toulouse nahmen sie Unterkunft in einer zwielichtigen Herberge. Der Wirt machte beide betrunken und versteckte einen silbernen Becher in ihrem Wandergepäck. Er wollte sich auf unlautere Weise ihrer Habe bemächtigen. Vater und Sohn verließen am nächsten Morgen nichtsahnend das Haus. Kaum unterwegs, eilte der Wirt ihnen nach, fand den Becher, beschuldigte sie des Diebstahls, brachte sie vor den Richter, erhielt das Reisegut der Pilger, und der Sohn wurde aufgeknüpft. Betrübt zog der Vater von dannen. Nach 36 Tagen (vielleicht waren es auch nur zwei, die Trauer ließ ihn umkehren) kam er wieder nach Toulouse und begab sich zur Richtstätte.
Der Sohn hing noch am Galgen, aber er lebte und sprach: „Liebster Vater, weine nicht, denn mir war noch nie so wohl: Wisse Sankt Jakob hat mich bis zu dieser Stunde gehalten und mich erquicket mit himmlischer Süßigkeit.“ Der Vater rief viele Leute herbei. Der Jüngling wurde abgehängt und der Wirt aufgehängt. Jakobus hatte der Gerechtigkeit Genüge getan.
Nun denke ich mir, um der Geschichte einen gewissen Anstrich von Realität zu geben, es muss wohl ein Toulouser Bürger aus Nächstenliebe dem jungen Mann nächtlings eine Fußbank untergeschoben haben …
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