23. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2020

Alleinstehend vorm Aufstehen

von F.-B. Habel

Als Peter Wawerzinek vor zehn Jahren in Klagenfurt sowohl den Ingeborg-Bachmann-Preis wie auch den Publikumspreis des Wettbewerbs gewann, war er 55 und die Presse nannte ihn einen „Methusalem“, wie er in der jungen Welt berichtete. In der Villa Massimo in Rom, wo der Autor derzeit arbeitet, erfuhr er, dass die 80-jährige Helga Schubert zum diesjährigen Wettbewerb eingeladen war und wünschte ihr, dass sie ihn als Alterspräsident entthrone. Mit dem Hauptpreis für ihren so klugen wie formvollen Text „Vom Aufstehen“ gelang es, und den Publikumspreis hätte sie um ein Haar auch gewinnen können, wenn da keine Netzwerk-Störungen aufgetreten wären, die beispielsweise auch den Verfasser am Abstimmen („Voten“) gehindert hätten.

In ihrer in Klagenfurt eingereichten Vita wies Helga Schubert darauf hin, dass ihre allererste Veröffentlichung 1975 in der Weltbühne erschienen sei. Ja, auch 1975 erschien im Blättchen ein feuilletonistischer Text von ihr. Der erste überhaupt allerdings datiert schon vom Frühjahr 1974 in Nr. 18: „Meine alleinstehenden Freundinnen“, eine Betrachtung, die ein kleines Beben im Feuilleton auslöste, das bis in den Sommer hineinreichte.

Helga Schubert, die Berliner Psychotherapeutin mit Hang zum Schreiben, fand in einen von Sarah Kirsch geleiteten Literaturzirkel, wo Heinz Knobloch auf sie aufmerksam wurde. Ihre erste Veröffentlichung kam durch ihn zustande, der den Text auch in seine im Herbst 1974 im Buchverlag Der Morgen erschienene Sammlung „Kreise ziehen“ aufnahm. Für die Weltbühnen-Leser sah sich Knobloch veranlasst, einführende Sätze vor Schuberts Feuilleton zu stellen, in denen er warnte, „nicht alle Männer [werden es] in Ruhe lesen und leiden mögen, und einige Frauen werden nicht alles verstehen“.

Wahrscheinlich meinte der Herausgeber in dem auf 18 Punkte unterteilten Text Absätze wie diesen: „Meine alleinstehenden Freundinnen haben, sofern sie nicht kinderlos sind, ein Kind. Die Kinder brauchen nicht so viel aufzuräumen, müssen nicht so früh ins Bett wie andere Kinder und gehen ebenfalls nicht zum Friseur. Die Kinder sind immer dabei. Meine alleinstehenden Freundinnen wollen ihre Kinder antiautoritär erziehen, aber die Kinder danken es ihnen nicht, zunächst. Die Kinder ähneln ihren Vätern, und da ist der Haken.“

Da waren in scheinbar leichtem, auch ironischem Ton Probleme in der DDR-Gesellschaft angesprochen worden, die am gewünschten Familienbild rüttelten. Im Zeichen der Emanzipation der Frau gab es wohl doch Lebensbilder, die den einen oder anderen seelischen Knacks verrieten. Die geforderte Selbständigkeit führte mitunter in eine nicht erwünschte Form der Zurückgezogenheit, die aber doch nicht mit einer selbstgewählten Isolation einherging. Diese Töne waren neu in der DDR-Literatur und stellten auch in der Publizistik ein neues Thema dar. Seltsamerweise hat es bis heute nur wenig an Aktualität verloren.

Nach Erscheinen des Artikels gab es einen Ansturm auf die Redaktion der Weltbühne. Leserbriefe, Lob, Gegenpositionen, sogar Glossen wurden auf Schuberts Äußerungen eingesandt, wie in der Rubrik „Antworten“ im letzten Juli-Heft 1974 mitgeteilt wurde. Interessanterweise waren es zunächst Männer, die sich äußerten. Als erster meldete sich ein gewisser Lutz Rathenow aus Jena: „Ein prägnanter, knapper Stil […]. Die Weltbühne sollte öfter den Mut aufbringen, eigenwillige literarische Versuche der Öffentlichkeit vorzustellen.“ Zwei Hefte später schrieb Leserin Doris Roland aus Berlin, dass sich ihre alleinstehenden Kolleginnen Abschriften des Textes anfertigten und stellte fest: „Fast bis ins Detail stimmt alles, wirklich verblüffend!“

Immerhin zweieinhalb Seiten räumte die Weltbühne dem Abonnenten Gerd Wähner aus Berlin ein, der unter der Überschrift „Alleinstehende Freundinnen, Typ zwei“ seine weiblichen Vertrauten nicht ohne Witz in 15 Punkten schilderte. Dabei legte er Wert darauf, dass seine Freundinnen nicht nur wie bei Schubert in Altbauwohnungen zu Haus wären. Auch Wähner schaffte es, einige Verhältnisse in der DDR dezent kritisch zu sehen. Seine alleinstehenden Freundinnen „vertrauen sich lieber der Bahn an; es trampt sich mit Kind schlecht. Die allein Alleinstehenden sind da besser dran, sie können sich schon mal treiben lassen. Die weite Welt lernen sie dabei – trotz angemessenen Mindesturlaubs – auch nicht gerade kennen, aber wer will, kann schon was sehen.“

Schließlich sah sich im Sommer noch Felix Mantel veranlasst, sich an Helga Schuberts Feuilleton anzuhängen. Wie von ihm als „Kishon vom Alexanderplatz“ zu erwarten, blieb sein Text „Meine alleinstehenden Freunde“ eine allgemein witzige Glosse ohne strenge soziologische Betrachtungen, obwohl auch er an Wahrheiten nicht vorbeikam: „Die Beziehungen meiner alleinstehenden Freunde zum anderen Geschlecht haben oft einen unverbindlichen Charakter. Trotzdem oder gerade deshalb können meine alleinstehenden Freunde sehr nett zu Frauen sein. Einige meiner alleinstehenden Freunde haben noch eine Mutti oder Tante, die ihnen alles macht. Vor diesen Freunden möchte ich alle Mädchen ernstlich warnen.“

Anderthalb Seiten widmete die „Antworten“-Rubrik schließlich in Nr. 31 den Alleinstehenden, um die Sache abzuschließen. Hier sei nur die Schauspielerin Erika Müller-Fürstenau zitiert, die über ihre alleinstehenden Freunde feststellte, dass sie deren Wohnungen „an gewisse komfortable DEFA-Stuben“ erinnerten, „unbewohnt wirkend und etwas steril“. Die Lesermeinungen drohten zu geschmäcklerisch zu werden – darum war es wohl besser, dass ein Schlussstrich gezogen wurde.

Nachdem sie mehr als zwei Dutzend Bücher, Hörspiele und auch Filme geschrieben hatte, war Helga Schubert seit Jahren literarisch verstummt. Der Preis gibt ihr – in schwieriger familiärer Situation sowohl emotional als auch pekuniär – einen Schub, der uns als ihren Lesern zugutekommt, denn sie arbeitet jetzt intensiv weiter an dem Erzählungsband, dem der preisgekrönte Text „Vom Aufstehen“ in veränderter Form angehören wird. Wieder erzählt sie von Frauen, aber in anderer Konstellation. Die Autorin hat vor vier Jahren ihre Mutter verloren, die über 100 Jahre alt geworden war. Erst jetzt hat sie den Mut gefasst, ihr schwieriges Verhältnis offen, ohne Ressentiments, durchaus mit rückblickender Liebe aufzuarbeiten. Die Schilderungen sind nüchtern, abgeklärt, aber gerade das macht sie so ergreifend. Die Mutter der Ich-Erzählerin – und es ist unstrittig, dass es die Autorin selbst ist – hatte sich dem Abtreibungswunsch des Vaters, der bald im Krieg fiel, widersetzt, weil sie sich einen Sohn wünschte. Als eine Tochter kam, war sie enttäuscht und zeigte ihr das für lange Zeit. Auch diese Mutter eine alleinstehende Frau, nur eine andere Generation.