23. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2020

Ruin durch Inzucht

von Matthias Dohmen

Mitte bis Ende der 1950er-Jahre eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen den Historikern der alten Bundesrepublik und der jungen DDR. Führende Männer des Verbandes der Historiker Deutschlands (VHD) wie die Konservativen Hermann Aubin, Hermann Heimpel und Gerhard Ritter hatten früh, noch bevor der Kalte Krieg zur Gründung von zwei deutschen Staaten führte, auf Konfrontation gegenüber einer marxistischen Methoden verpflichteten Geschichtsschreibung gesetzt. Argwöhnisch wurde hinter den Kulissen der Kampf gegen die Walter Markov, Karl Heinz Jahnke, Fritz Klein und Jürgen Kuczynski geführt. Der auf dem Historikertag in Trier 1958 als unrühmlicher Höhepunkt des innerdeutschen „Geschichtskrieges“ erfolgte Bruch des Verbandes ist auch von bundesdeutscher Seite provoziert worden. Als Schreckgespenst galt Walter Markov und damit ausgerechnet jener Marxist, der schon früh seinerseits vor einem Monopol und davor gewarnt hatte, die Freiheit der Wissenschaft administrativ zu strangulieren: „Niemand wird den Wunsch hegen, den historischen Materialismus für seine Unterdrückung in anderen Teilen Deutschlands durch ein Monopol in der Ostzone zu entschädigen; es sei denn, dass er ihn vorsätzlich durch Inzucht ruinieren möchte“, schrieb er 1947 in der Zeitschrift Forum.

Doch „Inzucht“ und „Ruin“ waren nicht zu stoppen. Zu den erschütterndsten Dokumenten, die man im Archiv des VHD, das 2015 dem Bundesarchiv eingegliedert wurde, einsehen kann, zählt die „Spezialakte“ über die Mittelalterhistorikerin Prof. Dr. Irmgard Höß, die früh in die Mühlsteine der deutsch-deutschen Auseinandersetzungen geriet und – ein exemplarisches Schicksal – in die Flucht getrieben wurde, wozu ihr als einer ultima ratio ein kommunistischer Kollege geraten hatte.

1958 fand an der Universität in Jena eine „Neuordnung der Bibliothek“ statt, die einschneidende Lese- und Denkverbote zur Folge hatte: „Eine Benutzerordnung wird zunächst einmal dafür sorgen, dass eine ausgedehnte Ausleihe nicht mehr erfolgt und für die Benutzung von Westbüchern durch Studierende und Außenstehende eine einschneidende Begrenzung erfolgt. Die West-Bücher werden wieder in stärkerem Maße der einfachen Freihandbenutzung entzogen werden.“ Irmgard Höß, die dieses Dokument bei ihrer Flucht in den Westen mitnahm, wurde über Jahre ihre Arbeit so verleidet, dass sie am Ende keine andere Möglichkeit mehr sah, als die DDR in Richtung Bundesrepublik zu verlassen.

1945 war sie in Jena promoviert worden und hatte sechs Jahre später die Lehrberechtigung erworben. Im Jahre 1956 wurde sie zur Professorin für die Geschichte des Mittelalters berufen und gleichzeitig zur Direktorin der Abteilung für Geschichte des Mittelalters am Historischen Institut ernannt. Im selben Jahr war sie in den Ausschuss des VHD gewählt worden, wozu ihr vom Hochschulsekretariat in Jena ausdrücklich gratuliert wurde. Höß war – in Fortsetzung der Tätigkeit Karl Griewanks, dessen Assistentin sie gewesen war und der Ende 1953 aus offensichtlich privaten Gründen den Freitod gesucht hatte – informelle Leiterin für diejenigen VHD-Mitglieder, die in der DDR lehrten oder als Emeritierte wohnten. Dabei handelte es sich bei den noch Lehrenden um eine kleine Gruppe, der Hans Haussherr (1958 geflohen), der Mediävist Heinrich Sproemberg (1958 emeritiert), die Archivare Hellmut Kretzschmar und Heinrich Otto Meisner sowie Eduard Winter angehörten.

Offensichtlich hatte sich Höß etwa zwei Jahre intensiv ihren Studien und weiteren Aufgaben an der Hochschule widmen können, bevor sie im Zuge der „Entwicklung der Universität zur sozialistischen Hochschule“ 1958 ins Schussfeld ihrer orthodoxen Kollegen Kurt Pätzold und Max Steinmetz geriet – übrigens desselben Max Steinmetz, der ihr 1956 noch versichert hatte, dass er „Wert auf eine sachliche Zusammenarbeit“ lege. Höß setzte sich übrigens, gemeinsam mit Hans Rothfels, dafür ein, im Rahmen des VHD nicht von der „Zone“, sondern von der DDR zu reden.

Stein des Anstoßes war ihre Haltung gegenüber einer Entschließung, die sich gegen die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik richtete. Die Resolution wurde ihr – so hat sie es für die Nachwelt in ihren Erinnerungen, die beim VHD hinterlegt sind, festgehalten – von einem Assistenten Ernst Engelbergs „zur Unterzeichnung“ gebracht: „Ich las sie durch und stellte fest, dass sie gekoppelt war mit einem Angriff auf westdeutsche Kollegen (gemünzt vor allem auf Ritter) und mit einem massiven Bekenntnis zur Gesellschaftsordnung und Staatsform in der DDR“. Kurze Zeit später erschien in der FDJ-Zeitschrift Forum ein Artikel, „in dem ich der Befürwortung des Atomkrieges geziehen wurde und zugleich wegen meiner Ablehnung des Marxismus-Leninismus auf das Schärfste verurteilt wurde“. Das ging ihr zu weit, woraufhin sie um ihre Entlassung und schließlich die Genehmigung der Ausreise nachsuchte – die ihr verwehrt wurde.

In dem Schreiben an den Rektor der Universität führte sie an, dass sie ultimativ aufgefordert worden sei, „meine Vorlesungen auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus zu gestalten, obwohl bei meiner Ernennung bereits bekannt war, dass ich bei voller Achtung der marxistischen Geschichtsauffassung persönlich ein anderes Geschichtsbild vertrete“. Man nahm ihr einen Mitarbeiter weg und hinderte sie daran, einen ihrer Schüler als neuen Assistenten einzustellen. Unter diesen Umständen könne ihr die DDR keine „mich ausfüllende Lebensaufgabe“ mehr bieten.

In ihrer Not vertraute Höß sich Leo Stern an, einem prominenten kommunistischen Wissenschaftler, Mitherausgeber der ZfG, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR und von 1953 bis 1959 Rektor der Martin-Luther-Universität Halle. In einem zwei Seiten umfassenden Memo hat sie den Verlauf des Gesprächs vom 5. Mai 1958 festgehalten: „Er begann mit der Feststellung: ‚Sie sind in Not; dass das eines Tages so kommen musste, war mir klar.‘ Ich fragte ihn, ob er mir legal heraushelfen könne. Das musste er verneinen. Er meinte, ich hielte ihn für mächtiger, als er sei.“ Am Ende verabschiedete er sie „mit dem Trost: ‚Tempelhof bleibt Ihnen immer noch‘“. Die DDR verließ sie neun Tage später mit der S-Bahn über den Bahnhof Gesundbrunnen und floh über den Flughafen Tempelhof in die Bundesrepublik.

Innigste Freundschaft oder tiefste Feindschaft, ein Drittes gab es nicht.