Donald Trump hat seinem Ego wieder einmal Zucker gegeben. Den geladenen Journalisten im Weißen Haus klangen noch die wütenden Attacken gegen China in den Ohren, da verkündete er, im Grenzstreit zwischen Indien und China vermitteln zu wollen. In einem Telefonat habe ihn der indische Premierminister Narendra Modi wissen lassen, dass er unglücklich über die jüngsten Vorfälle mit China sei. „Es gibt einen großen Konflikt zwischen Indien und China. Zwei Länder mit 1,4 Milliarden Menschen. Zwei Länder mit mächtigen Militärs“, erklärte Trump am 27. Mai. Und deshalb biete er sich an, zwischen Indien und China zu vermitteln. „Ich würde das tun, wenn sie meinen, es würde hilfreich sein, wenn ich Vermittler oder Schiedsrichter wäre.“
In Indien wurde diese Nachricht mit Verwunderung aufgenommen. Aus Regierungskreisen war zu hören, dass es kein Telefonat zwischen Modi und Trump gegeben habe. Der letzte direkte Kontakt rührte vom 4. April her, als Trump um zusätzliche Lieferungen des in Indien gefertigten Medikaments Hydroxychloroquine bat. Zwischenfälle an der indisch-chinesischen Grenze gab es erst vier Wochen später. Jetzt wies nicht nur das indische Außenministerium das Trumpsche Angebot zurück, auch Verteidigungsminister Rajnath Singh erläuterte seinem USA-Partner Mark Esper telefonisch den bewährten, vereinbarten Mechanismus, der bei Grenzproblemen zwischen Indien und China in Kraft tritt. Beide Seiten seien auf militärischer und diplomatischer Ebene bemüht, die Lage zu entschärfen.
Die chinesische Regierung äußerte sich ähnlich. Der Sprecher des Außenministeriums ließ wissen, dass Indien und China in der Lage wären, ihre Differenzen durch Dialog zu lösen, die Hilfe einer dritten Partei sei nicht nötig.
Der USA-Präsident wollte offensichtlich wieder einmal im Trüben fischen. Doch damit hatte er vor einem knappen Jahr schon einmal einen eklatanten Reinfall erlebt. Damals ließ er verlauten, dass Premierminister Modi ihn um Vermittlung im Kaschmirkonflikt gebeten hätte. Das war glatt erfunden, sogar der indische Außenminister sah sich seinerzeit genötigt, vehement zu protestieren, da Modi ein solches Anliegen nie geäußert habe.
Jetzt sollte Trumps Ausflug an die indisch-chinesische Grenze wieder einmal der Pflege seines Egos als deal maker, Vermittler und selbsternannter Friedensstifter dienen. Doch bei nationalistisch eingestellten Kreisen in Indien fallen seine Worte auf fruchtbaren Boden. Dazu passt auch die Anbiederung Trumps: „Ich mag Modi, er ist ein großartiger Gentleman …“ und „Sie haben mich in Indien sehr gern …“
Doch kurz nach dieser diplomatischen Bauchlandung gab es am 2. Juni tatsächlich einen Anruf des USA-Präsidenten in Neu Delhi. Er lud seinen Partner zum geplanten erweiterten G7-Treffen ein. Der Presseveröffentlichung zufolge nannte Modi das Vorgehen Trumps „kreativ und weitreichend“ für die Nach-Corona-Zeit. Indien werde daran mitwirken, den Gipfel zu einem Erfolg werden zu lassen. Auch über die Lage an der indisch-chinesischen Grenze soll in dem 25-minütigen Telefonat gesprochen worden sein. „Hatte eine warme und produktive Unterhaltung mit meinem Freund Präsident Donald Trump“, twitterte Modi der offiziellen Meldung hinterher. Eine Aussage, die manche Interpretation zulässt.
Zurück zur Lage an der 3488 Kilometer langen indisch-chinesischen Grenze. Sie ist nicht aktuell vermessen, nicht demarkiert und nicht durch bilaterale Verträge sanktioniert. Die noch aus der britischen Kolonialzeit stammenden, über 100 Jahre alten Vermessungskarten sind unvollständig. So sind einige Gebiete (beispielsweise in Ladakh) überhaupt nicht erfasst, gegenseitige Gebietsansprüche überschneiden sich. Doch auf der alten Vermessung basiert größtenteils der heutige De-facto-Zustand, „line of actual control“ (LAC) genannt. Diese Linie wird von China und Indien weitgehend wie eine Grenze zwischen beiden Staaten behandelt, ihr Regime wird mitbestimmt durch einen vereinbarten, detaillierten Kontroll- und Schlichtungsmechanismus für die Behandlung von Vorkommnissen. Dazu gehören militärische Gesten, Treffen lokaler Kommandanten und höherer militärischer Führungskräfte, aber auch diplomatische Mittel wie Zusammenkünfte der nationalen Sicherheitsberater. Dieser Mechanismus hat sich bewährt, wenn man sich vor Augen hält, dass seit 1985 bei wiederholten Streitigkeiten kein einziger Schuss gefallen ist!
Wie sah nun der von Trump bezeichnete „große Konflikt“ zwischen Indien und China aus, der den Präsidenten bewog, Vermittlerdienste anzubieten? Nach indischen Angaben begannen die Ereignisse am Abend des 5. Mai. Da standen sich im äußersten Nordwesten Indiens, im Unionsterritorium Ladakh, indische und chinesische Soldaten gegenüber, die sich beschimpften, bespuckten und schließlich mit Stöcken und gar Eisenstangen aufeinander schlugen. Auf beiden Seiten waren je 250 Personen beteiligt, 100 von ihnen wurden bei der Schlägerei verletzt. Am 9. Mai ereignete sich ähnliches an der Grenze des Bundesstaates Sikkim zu Tibet. Dort waren etwa 150 Soldaten beteiligt, berichtet wird von zehn verletzten Indern und Chinesen.
An beiden Stellen ergab sich seitdem eine Patt-Situation – die Soldaten stehen sich unmittelbar gegenüber, es gibt für niemanden ein Vorwärts oder Rückwärts. Indien behauptet, dass die Auseinandersetzungen von chinesischer Seite begonnen wurden, indische Arbeiter und Soldaten sollten am Bau von Straßen in den umstrittenen Gebieten gehindert werden.
Diese Version ist durchaus verständlich, denn seit Amtsantritt der nationalistisch gesinnten Modi-Regierung wird dem Ausbau der Infrastruktur an der Grenze zu China große Bedeutung beigemessen. Straßen, Brücken und Flugfelder entstehen. Selbst große Transportmaschinen können dort an verschiedenen Stellen landen. China, das auf seiner Seite schon seit Jahren die Infrastruktur ausgebaut hat, will die indischen Maßnahmen offensichtlich nicht hinnehmen. Es sieht seine bisherigen strategischen Vorteile gefährdet. So stehen sich indischer und chinesischer Nationalismus gegenüber.
Bisher ist es stets gelungen, ähnliche Situationen zu entschärfen. Zuletzt standen sich 2017 am Dreiländereck Indien-Bhutan-China bei Doklam Soldaten beider Länder 73 Tage lang gegenüber. Damals wollte Indien den Bau einer chinesischen Straße verhindern. Erst durch ein direktes Gespräch zwischen Premierminister Modi und Präsident Xi Jinping wurde die Patt-Situation beendet.
Zwischen beiden Staatsmännern hat sich in den letzten Jahren ein gutes Arbeitsverhältnis herausgebildet. Obwohl auch die Grenzfrage immer Thema ihrer Gespräche ist, gibt es keine endgültige Lösung. Beide Seiten sind sich jedoch einig, keine größeren Konflikte, schon gar keine militärischen, aufkommen zu lassen. Das ist schon viel, dürfte aber den Ansprüchen und Bedürfnissen der beiden asiatischen Giganten nach einer allseitig guten Zusammenarbeit nicht genügen. Beobachter weisen darauf hin, dass China eine Regelung der Grenzprobleme bewusst verzögert. Es will seine Vorteile je nach Bedarf als Druckmittel gegen Indien einsetzen. Indien möchte seit einigen Jahren wenigstens eine durchgängige Markierung der Grenzlinie erreichen, es ist zu Gebietsaustausch bereit. Da es aber keinen Fortschritt gibt, ist Neu Delhi offensichtlich entschlossen, seine Positionen im Himalaya-Gebiet zu stärken. Mit China dort gleichzuziehen heißt, die Infrastruktur in den umstrittenen Gebieten auszubauen, Militärtechnik und Truppen anzusiedeln. Dabei gibt es Kollisionen mit der chinesischen Seite, die Berichten zufolge im Moment ebenfalls verstärkt Technik und Truppen in Richtung Grenze bewegt. Eine neue Situation entsteht, der sich die Staatsmänner beider Länder stellen müssen. Ein Donald Trump ist dafür auf keinen Fall notwendig, doch scheint Indien von der antichinesischen Politik der USA-Regierung profitieren zu wollen.
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