Ein Symbol für die Stärke der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen: In der Nacht zum 11. Juni landet eine Lufthansa-Maschine aus Frankfurt am Main auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo. Auf Initiative der Deutsch-Russischen Außenhandelskammer (AHK) und der Deutschen Botschaft in Moskau hatte die russische Regierung der Lufthansa als erster europäischer Fluglinie erlaubt, deutsche und europäische Top-Manager und Geschäftsleute, die in Russland arbeiten, in das Land zurückzubringen. Dass die Wahl auf die deutsche Fluggesellschaft fiel, sieht AHK-Vorsitzender Matthias Schepp als „Symbol und Signal für die Stärke der Wirtschaftsbeziehungen beider Länder“. „Deutschland war, ist und bleibt Russlands wirtschaftlicher Schlüsselpartner in Europa“, betonte Schepp. Aufgrund der Anti-Corona-Maßnahmen der russischen Regierung hatte der größte Flächenstaat der Erde seine Grenzen am 30. März geschlossen, sodass zahlreiche Manager in Russland tätiger Firmen in Deutschland und Westeuropa gestrandet waren. „Wir hoffen, dass dieser Flug der Auftakt für die Rückkehr unserer Manager im großen Stil ist und appellieren an die Regierungen in Berlin und Moskau, auch normale Geschäftsreisen schnellstmöglich wieder zu erlauben“, so Schepp. Die AHK ist mit mehr als 900 Mitgliedern der größte ausländische Wirtschaftverband in Russland. Die Netto-Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in Russland hatten laut Deutscher Bundesbank in den vergangenen beiden Jahren mit 3,3 Milliarden Euro (2018) und 2,1 Milliarden Euro (2019) Rekordwerte erreicht. Die Coronarezession brachte jedoch den deutschen Exportmotor ins Stottern. Allein im April gingen die deutschen Gesamtexporte gegenüber dem Vorjahresmonat um 31,1 Prozent zurück, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Der größte Rückgang eines Monats im Vergleich zum Vorjahresmonat seit Beginn der Außenhandelsstatistik 1950.
Neue Ideen sind gefragt. Ein großes Potenzial bietet der eurasische Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok. Es geht um den Ausbau der Energieverbindungen, den Austausch auf den verschiedensten Gebieten – von Rohstoffen bis IT –, die Zusammenarbeit zwischen Europäischer Union und Eurasischer Wirtschaftsunion (EAWU) und vieles mehr. Dazu meldete sich am 8. Juni Oliver Hermes, Vorsitzender des Ost-Ausschuss-Osteuropaverein (OAOEV) der Deutschen Wirtschaft mit dem Gastbeitrag „Gemeinsam in die Zukunft“ in der russischen Tageszeitung Kommersant zu Wort. Sein Vorschlag: eine gemeinsame Industriestrategie von Russland und EU, die auch Aspekte wie Digitalisierung und Klimaschutz einbeziehen sollte. Seiner Meinung nach steht der Kontinent vor einer Bewährungskrise historischen Ausmaßes, die Solidarität in Gesundheits- und zunehmend auch in Wirtschaftsfragen werde in der Coronakrise einem Lackmustest unterzogen. In der Krise liege aber auch eine große Chance, Versäumtes müsste jetzt beschleunigt nachgeholt werden. Auch die Politik sollte hier mitziehen. Es sei an der Zeit, über die Gestaltung eines souveränen und solidarischen Kontinents nachzudenken, der mehr ist als ein Juniorpartner Chinas oder der USA. Die jüngst von den Regierungschefs der EU-Staaten beschlossenen Maßnahmen stellten zunächst nur das „Notwendige“ dar, seien auf die akute und kurzfristige Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Coronakrise gerichtet, reichten aber nicht aus. Demgegenüber hätten Russland und andere Länder außerhalb der EU bereits vor der Pandemie klar formulierte Industriestrategien verabschiedet. Russland ginge es insbesondere darum, die Abhängigkeit von den Rohstoffmärkten zu reduzieren, die Industrie zu diversifizieren, die lokale Wertschöpfung und den Export zu stärken. Bei der digitalen Transformation könne man durchaus von Russland lernen. Die EU-Länder verfügten gemeinsam mit Russland über eine einzigartige Forschungslandschaft, was sich beispielsweise in der jahrzehntelangen deutsch-russischen Kooperation in der Kosmosforschung gezeigt habe. „Wir brauchen im Interesse unserer Industrie einen institutionalisierten Dialog zwischen der EU-Kommission und der Eurasischen Wirtschaftsunion“, schlussfolgerte Hermes, denn: „Getrennt werden es weder die EU noch Russland schaffen, gegen die Aufteilung der Welt durch Chinesen und US-Amerikaner ein wirksames Gegenmittel zu entwickeln.“ Ein vernünftiger Austausch über einen gemeinsamen Wirtschafts- und Industrieraum von Wladiwostok bis Lissabon müsse endlich beginnen.
In seinem Artikel verwies Oliver Hermes auch auf die großen Chancen hinsichtlich der Energiekooperation. Immerhin könnten in diesem Jahr Deutschland und Russland/Sowjetunion auf 50 Jahre Energiebeziehungen zurückblicken. Die Erdgas-Pipelines würden auch dazu beitragen, die Energiebilanz der EU kurzfristig zu verbessern. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass derzeit die USA den Druck verstärken, um die Pipeline Nord Stream 2 buchstäblich auf den letzten Kilometern zu stoppen. Von den insgesamt 2.500 Pipelinekilometern sind nur noch 150 zu verlegen. Das soll nun der im US-Senat von Ted Cruz (Republikaner) und Jeanne Shaheen (Demokratin) eingebrachte Gesetzentwurf „Protecting Europe´s Energy Clarification Act of 2020“ verhindern. Er würde ein von Senat und Repräsentantenhaus 2019 verabschiedetes Sanktionsgesetz ergänzen und rückwirkend mit Stichtag 19. Dezember 2019 gelten. Vorgesehen sind nicht nur Sanktionen gegen die Eigner der am Projekt beteiligten Verlegeschiffe, sondern alle Unternehmen und Personen, die zur Ausrüstung der Schiffe beitragen oder in irgendeiner anderen Form an den Verlegearbeiten beteiligt sind. Bereits Ende 2019 hatte die Schweizer Firma Allseas angesichts der Drohungen aus den USA ihre Verlegeschiffe aus der Ostsee abgezogen. Inzwischen kam Anfang Mai das russische Spezialschiff „Akademik Cherskiy“ in Mukran auf Rügen an und wird nachgerüstet, um die letzten Rohre zu verlegen. Die US-Pläne seien eine direkte Bedrohung der Rechtssicherheit in der EU, warnte OAEOV-Vorsitzender Hermes. Europäische Energiefragen seien in Europa und nach europäischen Gesetzen zu klären und nicht durch US-Repräsentanten. Auch im Bundestag stieß der US-amerikanische Vorstoß auf Kritik. Nach Meinung von Fritz Felgentreu, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, betreibe Washington „Hegemonialpolitik“. Klaus Ernst (DIE LINKE), Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Energie im Deutschen Bundestag, kritisierte den jüngsten US-Vorstoß als „direkten Angriff auf die Souveränität Deutschlands und Europas“. Die Bundesregierung müsse jetzt alle verfügbaren Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass die Initiative Gesetz wird. Wie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 14. Juni zu lesen war, halte man auch im Auswärtigen Amt die möglichen Strafmaßnahmen für „einen schweren Eingriff in die europäische Energiesicherheit und EU-Souveränität“.
Während in politischen Kreisen Deutschlands ein weitgehender Konsens im Hinblick auf Nord Stream 2 zu bestehen scheint, ist das offensichtlich bei weiter reichenden Projekten nicht der Fall. Am 1. Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft für das nächste Halbjahr. Eigentlich eine Gelegenheit, die Initiative für von der Wirtschaft angeregte Schritte zu mehr Kooperation mit Russland zu ergreifen. Im Rahmen einer Online-Diskussion der Konrad-Adenauer-Stiftung am 27. Mai sprach die Bundeskanzlerin zwar davon, den EU-Vorsitz zu „neuen Impulsen“ gegenüber Russland zu nutzen, ohne allerdings auf die durchaus wichtige wirtschaftliche Kooperation einzugehen. Bleibt zu hoffen, dass die deutsche Regierungspolitik nicht weiterhin der Wirtschaft in den Zukunftsfragen Eurasiens hinterher hinkt.
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