Wenn mich in zehn Jahren jemand fragen sollte, was ich, der ich ja Zeitzeuge gewesen sei und folglich verpflichtet zum Bericht, mit der Corona-Krise verbinde, dann werde ich antworten: „Das Trampolin.“ Falls derjenige, der mich fragt, ein wenig recherchiert hat, wird er vielleicht schlagfertig und mit einem gewissen Wortwitz entgegnen: „Sie meinen Pangolin, Herr M.?“ Jenes „Tannenzapfentier“, das zu den möglichen Überträgern des Virus Sars-CoV-2 zählte. Damals, als die Pandemie über uns kam. (Oder es ist in zehn Jahren geklärt, dass es doch ein Äffchen war? eine Schildkröte? ein weißer Hai?) „Nein, nein“, werde ich altersmilde, im Geiste allmählich schwächelnd, doch des einen oder anderen Wortes noch treffend-mächtig, antworten: „Ich meine das Trampolin. Dieses gymnastische Gerät, auf dem der Mensch die Erdanziehungskraft vergessen kann, wenn er hüpft. Wenn er Pirouetten in der Luft dreht. Wenn er sich geschickt auf Rücken oder Bauch fallen lässt, in Spiralen sich windend und um hinaufgeschnellt zu werden ins Reich der Schwerelosigkeit. Für Bruchteile von Sekunden. Und es entquillt seiner Brust das Jauchzen des Kindes, verstehen Sie? Der Urschrei des Lebens. Solange er nicht runterfällt.“
Und warum ein Trampolin? Und ich werde erzählen, dass hinter dem Haus, in dem ich zur Corona-Zeit wohnte (und vielleicht noch immer wohnen werde), auf dem Rasen in einer Ecke des vielleicht 10 mal 15 Meter großen Gartens ein Trampolin stand: „Es hatten die jungen Eltern der Familie, die unter mir wohnte, für ihre beiden Kinder aufgestellt. Ich konnte vom Balkon meiner Wohnung in der ersten Etage zuschauen, wie das Mädchen und der Junge, Lina und Kilian, zusammen mit Vater und Mutter erst sozusagen als Anhängsel gehüpft wurden. Bis sie allmählich selbst zu Hüpfern wurden. Über Jahre, sporadisch. Ich würde sagen, der Kauf des Trampolins hatte sich schon nach wenigen Monaten amortisiert. Sehen Sie, und dann kam das Virus. Und das Trampolin wurde zum Mittelpunkt der Welt.“
„Hoho“, wird mein zukünftiger, meine Erinnerungen abzapfender Befrager machen, „hoho! Mittelpunkt der Welt, nun ja, nun so …“
Ach, werde ich denken, lass mich weiterreden, junger Schwachkopf, der du von der Torte der Sentimentalität noch wenig gegessen und von den Jahren, die vor dir liegen, so viel erwartest, wie du nie bekommen wirst:
„Wie Sie vielleicht wissen, wandelte sich für Monate der Tagesrhythmus der Menschen. Wer zu Hause arbeiten konnte, musste es tun: Homeoffice. Kinder gerieten in die Gefangenschaft der elterlichen Wohnung: Homeprisoner. Und so mussten die Familien einen Homedeal vereinbaren, der sie schaffen und nicht durchdrehen ließ, der den Kindern die Schule halbwegs ersetzte und ihnen winzige Räume der Freiheit schuf. Man könnte sagen: Es brauchte Selbstbeherrschung und Phantasie, es brauchte Geduld und Spiele, es brauchte Anstand und Sportliches …
Nun kommt das Trampolin ins Spiel. Das runde Sportgerät wurde ein zentraler Bestandteil des Tages; es gab ihm eine Struktur. Morgens – ehe sich der Vater zum Homeoffice zurückzog und die Mutter sich auf die Unterrichtsstunden für Tochter und Sohn vorbereitete – wurde gehüpft. Mittags, wenn Pause war, wurde gehüpft. Und wenn Arbeits- und Schultag in Home vorbei waren, fanden sich drei Nachbarkinder ein – und sie hüpften und schrien und tirilierten mit den Vögeln in Baum und Strauch um die Wette.
Ja, auch Vögel hatten sich eingefunden. Sie sangen, als hätte sie jemand massenhaft herangeschafft und ihnen fette Gagen angeboten, um uns mit ihren brustschmetternden Singsängen zu unterhalten. (Vögel nehmen keine Gagen, weil die niemand zahlen könnte; sie sind im Naturrecht, Honorare in menschlich unvorstellbaren Höhen zu verlangen.)
Ein Bussard kreiste unterhalb der Dächer und hielt Ausschau nach Mäusen. Der Specht kam; Rotkehlchen und Meisen, und was wir an Eichhörnchen hatten, die bewegten sich acht- und furchtsam unter dem Himmel, der voller Krähen war. Und des Abends, wenn es dämmerte, flatterten die irrgewordenen Scheren als Fledermäuse am Balkon vorüber … O, ich schweife ab … Balkon, ja, gutes Stichwort.
Ich also saß auf meinem Balkon, trank ein kaltes Bier, ließ mein Buch sinken: Ich schaute zu, wie das Trampolin unter dem Tanz der Kinder ächzte und quietschte. Es dürften Geräusche des Glücks gewesen sein: Wann wird ein Trampolin, wenn es nicht in einer Halle des Hochleistungssports oder der Artistik steht, so dankbar angenommen und benutzt?
Die Corona-Gang der zwei Mädchen und drei Jungs tobte sich aus. Es gab auch Streit, oja. Einmal blieb das Nachbarmädchen eine Woche lang weg; einmal fehlten die beiden Nachbarjungs für ein paar Tage. Mir erschloss sich nicht, warum; ich verstand auch wenig davon, was sie – wenn sie auf dem Trampolin und durch den kleinen Garten kobolzten – schrien, gestikulierten, worauf sie mit imaginären Weltraumwaffen schossen und welche Figuren sie nachspielten, die sie aus ihren Games oder Comics kannten. Sie waren in ihrer Welt, und in der gab es Viren höchstens, um diese Mistviecher unter ihren Füßen zu zertrampeln. Und manchmal hörte ich auch Gebrüll aus der Wohnung unter unserer Wohnung, Türen knallten, es war nicht leicht, sich über Monate kaum aus dem Weg gehen zu können. Aber da war dieses Trampolin. Der Tag begann mit der Leichtigkeit, wie ein Ball zu springen; er teilte sich in der Mitte mit der Lust, den Körper auszuschlenkern; er rundete sich mit dem völlig selbstbezogenen, selbstvergessenen, die Kräfte fordernden und verschwendenden Kollektiv-Ballett.
Daran erinnere ich mich, und wie das Jubeln und Schreien der mit allen Gliedmaßen um sich werfenden Corona-Bande mit dem Zwitschern und Flöten der Vögel zum Chor der Freude wurde. Leider sah ich ihn nie: den Wolfgang Amadeus, der irgendwo im Gebüsch saß und dirigierte. Sonst könnte ich diesen Zeitzeugen-Bericht mit einer Beschreibung eines Schöpfers beenden. So endet die Geschichte meines liebsten Trampolins des Lebens – eben so.
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