Zu einem ungetrübteren Blick auf das heutige Griechenland wollen die in Band 5 der Reihe „Griechenland in Europa“ versammelten elf, von Hagen Fleischer zwischen 1992 und 2016 publizierten Fallstudien verhelfen – ins Deutsche gebracht, soweit sie ursprünglich auf Griechisch oder Englisch verfasst waren, von Andrea Schellinger. Die blamable „Bonner Vermeidungsstrategie“ von vorgestern dürfe nicht widerspruchslos – nun mit Berliner Abwiegelungstaktik – auf ewig weitergeführt werden.
Mit größtem Bedauern hatte der Bundespräsident bei seinem Besuch im Märtyrerdorf Lyngiades im März 2014 geäußert, „dass das demokratische Deutschland […] so wenig über deutsche Schuld gegenüber den Griechen wusste und lernte“. Am wenigsten können allerdings solche zu Recht beklagten Defizite denen angelastet werden, die es auf sich genommen haben – vielfach privatim und ohne jegliche Fördermittel –, dieses steinige Terrain zu erschließen. Die Zahl relevanter Publikationen allein des in Athen (früher auch auf Kreta) wirkenden deutschen und 1985 zudem auch griechischer Staatsbürger gewordenen Historikers Hagen Fleischer (Jg. 1944) ist enorm und potenziert sich fortlaufend durch die Arbeiten seiner Schülerschaft. Er ist nicht der Forscher, der still vor sich hin Archivakten entstaubt und sich mit Kathedergeflüster begnügt. Die gewissermaßen als Chronist von ihm selbst vorgenommenen und initiierten Befragungen von Zeitzeugen beeindrucken in Vielzahl und Breite. Seine Beteiligung an der Historikerkommission, die den von Kurt Waldheim verschwiegenen Einsatz im Stab der Wehrmacht in Thessaloniki nachweisen konnte, was zu dessen gegen erheblichen Widerstand durchgesetzten Abschied von der politischen Bühne führte, bewirkte damals hinreichend Öffentlichkeit. Fesselnd eine Causa darzulegen ist, wie sich im vorliegenden Buch bereits an diesem einen Beitrag über den zweimaligen UNO-Generalsekretär und späteren Bundespräsidenten Österreichs zeigt, nicht nur den Historiografen britischer Feder zu eigen.
Themenkomplexe, denen sich Hagen Fleischer (H.F.) widmet, betreffen: das Bild hierzulande von Eleftherios Venizelos, Großonkel des derzeitigen Ministerpräsidenten; die Spaltung der griechischen Gesellschaft vor, während und nach dem Krieg; Besatzung und Widerstand 1941–1944; die Verbrechen an den griechischen Juden; die Militärdiktatur 1967–1974 im deutsch/deutschen Kontext; die nach verdammt spät eingestandener Kriegsschuld noch immer blockierte vollständige Begleichung der Kriegsschulden. Umfangreich wird Material aufbereitet, um das Zusammenspiel von Ursachen und Folgen zu erhellen, gerechtere Urteile über die Akteure zu ermöglichen, nach ihrer Rolle Täter und Opfer zu benennen, der Geschichtsvergessenheit, -leugnung und -verdrehung Einhalt zu gebieten. Auf einige wenige Punkte sei im Folgenden verwiesen.
In seinem Pariser Exil hatte Venizelos, Hauptakteur der Liberalen während der ersten Dezennien des vorigen Jahrhunderts, im Herbst 1935 verlauten lassen, was H.F. wie folgt resümiert: „Dem Kontinent stünde nämlich ein neuer blutiger Waffengang bevor, ‚wie ein Naturphänomen, dem keine menschliche Macht widerstehen‘ könne: ‚Und auch dieser Krieg wird von Deutschland entfesselt‘! Da die Reichswehr derzeit noch nicht dazu in der Lage sei, höre man aus Berlin noch Friedensschalmeien. Doch bald sei die Aufrüstung abgeschlossen, und spätestens im Frühjahr 1937 werde Hitler losschlagen, um den Anschluss Österreichs mit Waffengewalt zu erzwingen. Der daraufhin als Kettenreaktion ausgelöste Weltkrieg(!) würde – infolge der Verbindungen zwischen Kleiner Entente und Balkanpakt – auch Griechenland erfassen; diese äußere Bedrohung unterstreiche jedoch die Notwendigkeit einer innergriechischen Aussöhnung und nationaler Einheit.“ Und H.F. weiter: „Diese brisante Prophezeiung ist in der Venizelos-Forschung lange unberücksichtigt geblieben.“
Hitlerdeutschland hatte von Anfang an Griechenland in seine geostrategischen Absichten einbezogen. So z. B. sah eine Empfehlung des später als Hitlergegner hingerichteten Carl Goerdelers aus dem Jahre 1938 vor, die Grenzen Bulgariens auf Kosten Griechenlands nach Süden bis an die Gestade der Ägäis zu verschieben. Als drei Jahre danach Deutschland, Italien und Bulgarien das Land unterworfen und unter sich aufgeteilt hatten, formierte sich eine breite, gegen Besatzer und Kollaborateure gerichtete Widerstandsbewegung unterschiedlichster Couleur und teilweise mit einem gegeneinander gerichteten Konfliktpotential, aus dem heraus nach Abzug der Wehrmacht im Oktober 1944 die Fronten aufbrechen und – unter dem Eingreifen der Briten (später der US-Amerikaner) auf Seiten des konservativen Lagers – der Bürgerkrieg eskaliert. Die zum Sieg über den Hitlerfaschismus am meisten beigetragen hatten, wurden ausgeschaltet, verfolgt, ausgebürgert, verketzert. H.F. hat intensiv zu Geschichte und Bewertung der griechischen Résistance gearbeitet. Hier erinnert er erneut daran, „dass die größte und wichtigste Widerstandsorganisation EAM/ELAS weitgehend von Kommunisten gegründet und kontrolliert worden war und daher von den konservativen Regierungen der Nachkriegszeit als ‚schlimmer als der Teufel‘ eingestuft wurde. So hatte meine Schlussfolgerung für Aufruhr gesorgt, endlich müssten die Maßstäbe zurechtgerückt und die Linke in ihrer historischen Rolle als bedeutendes Widerstandszentrum während der Okkupationszeit vom griechischen Staat offiziell anerkannt werden.“ 1974 ist die kommunistische Partei nach fast dreißigjährigem Verbot wieder legalisiert und 1982 die EAM als Teil des Nationalen Widerstands per Gesetz anerkannt worden.
Wie auch die Bundesrepublik mit der Würdigung des griechischen Widerstands ins Hinken kam, dem geht H.F. in seiner Paraphrase über „Deutsche Kränze auf griechischem Boden“ nach, eigentlich ein Ulk, den man gern in den Orkus versenkte, wenn sich da nicht bis heutzutage Schauriges täte. Erst kürzlich verlautete, dass sich aktive und frühere Soldaten der Bundeswehr dieses Jahr wieder am NS-Denkmal im Dorf Floria auf Kreta zu einem Heldengedenken versammelt haben, als hätten Wehrmacht und SS niemals ein ungeheuerliches Erbe hinterlassen. Was Opferzahlen und Kriegsschäden betrifft, sind die dokumentierten Zahlen erschreckend. Die Anregungen Hagen Fleischers, wie die noch offene Schuldenlast abgetragen werden könnte, werden auf Skepsis stoßen, sollten aber dennoch Gehör finden. – Seine aufs sorgfältigste dargebotene Aufsatzsammlung darf als weiterer Baustein für einen – auch Wirtschaft und Kultur einzubeziehenden – Gesamtüberblick über die Geschichte Griechenlands der Neuzeit gelten.
Hagen Fleischer: Krieg und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert. Herausgegeben von Chryssoula Kambas, Übersetzungen Andrea Schellinger, Böhlau Verlag, Köln 2020, 366 Seiten, 30,00 Euro.
Schlagwörter: Griechenland, Hagen Fleischer, Horst Möller, Kriegsschulden