23. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2020

Auf Hölderlins Spuren

von Mathias Iven

Es war das Neckartal zwischen Tübingen und Heidelberg, das sein Denken und Dichten prägen sollte. Fast sechs Jahrzehnte verbrachte Hölderlin im Umkreis dieser Flusslandschaft. Sie war ihm Inspiration für die Naturbilder in seinen Gedichten und entsprach zugleich seiner Vorstellung von einer idealen hellenischen Landschaft, wie er sie in seinen dramatischen Werken heraufbeschwor. Vieles hat sich in zweihundert Jahren links und rechts des Neckars verändert. Mancherorts wurde massiv in die Landschaft eingegriffen und oftmals lässt sich nur schwer erahnen, was Hölderlin auf seinen Wanderungen erlebt und gefühlt haben mag. Wer sich dennoch aufmacht, um in Hölderlins Welt und Zeit einzutauchen, dem sei das gerade erschienene Buch von Dieter Balle empfohlen. Es ist die Art von Reiseführer, die sich Literaturenthusiasten wünschen: eine perfekte Mischung von biographischer Erzählung und touristischer Spurensuche – in diesem Fall bereichert durch Hölderlins Gedichte.

Los geht es in Hölderlins Geburtsstadt Lauffen, der zweitgrößten Weinbaugemeinde Württembergs. 1762 hatte sein Vater dort die Stelle des Klosterverwalters übernommen, vier Jahre darauf heiratete er die Pfarrerstochter Johanna Christiana Heyn aus dem nahegelegenen Cleebronn. Ob Friedrich Hölderlin im Kloster oder in der väterlichen, heute als Museum zugänglichen Dienstwohnung in der Nordheimer Straße zur Welt kam – man weiß es nicht. Nach dem Tod des Vaters, im Juli 1772, heiratete Hölderlins Mutter im Oktober 1774 Johann Christoph Gok. Noch im selben Jahr zogen die Neuvermählten nach Nürtingen, einer typischen, bereits vor unserer Zeitrechnung von Kelten besiedelten Ackerbürgerstadt. Gemeinsam mit dem einflussreichen Oberamtmann Carl Friedrich Bilfinger baute Gok im Schweizerhof, einer 1751 als spätbarockes Ensemble errichteten Anlage, einen florierenden Weinhandel auf. Hölderlin, der bis zu seinem Tod das Nürtinger Bürgerrecht besaß, besuchte ab 1776 die ortsansässige Lateinschule (heute Sitz des Forstamtes), wo er 1783 den fünf Jahre jüngeren Schelling kennenlernte. Bereits im Oktober des folgenden Jahres wechselte er gemeinsam mit 28 anderen Alumni in die nur wenige Kilometer von Nürtingen entfernt liegende Klosterschule Denkendorf, wo seine ersten Gedichte entstanden.

Von Denkendorf ging es 1786 in das seit 1993 zum Weltkulturerbe gehörende und noch immer als Schule genutzte Zisterzienserkloster Maulbronn. Hier lernte Hölderlin Louise Nast kennen, die jüngste Tochter des Klosterverwalters. Im Spätherbst 1788 verlobten sich die beiden, doch nur ein paar Monate später – Hölderlin hatte inzwischen seine Theologieausbildung am Tübinger Stift begonnen – zerbrach die Beziehung. In Tübingen sollte er nicht nur Schelling wiedertreffen. Ab dem Sommer 1791 bewohnten die beiden zusammen mit Hegel ein Zimmer. Sie lasen Kant und waren begeistert von der Aufklärung und den Ideen der Französischen Revolution. Gelegentlich wanderten sie auch, so zur Wurmlinger Kapelle. 1806 wurde Tübingen zur letzten Lebensstation des kranken Hölderlin. Zunächst fand er Aufnahme in der Autenriethschen Klinik, dann wohnte er mit Blick auf den Neckar im Turm bei Schreinermeister Zimmer. Schließlich fand er 1843 seine letzte Ruhe auf dem Tübinger Stadtfriedhof.

Zwei Mal, 1788 und 1795, besuchte Hölderlin die altehrwürdige Universitätsstadt Heidelberg. In dem beim ersten Aufenthalt verfassten Reisebericht für seine Mutter schrieb er: „Die Stadt gefiel mir außerordentlich wohl. Die Lage ist so schön, als man sich je eine denken kann.“ Auf dem rund zwei Kilometer langen, dem Heidelberger Schloss gegenüberliegenden Philosophenweg kann man heutigentags zu der dem Dichter gewidmeten Hölderlin-Anlage wandern.

Dieter Balle führt seine Leser noch an drei weitere, für Hölderlins Biographie wichtige Orte. Da ist zunächst Frankfurt am Main. Dort lebte die Familie Gontard, bei der Hölderlin eine Anstellung als Hauslehrer fand. Wo heute das Hotel „Frankfurter Hof“ steht, befand sich das Stadthaus der Familie. Was nur wenigen bekannt sein dürfte: Im Liebighaus am Schaumainkai befindet sich die einzige erhaltene, 1793 von dem Bildhauer Landolin Ohnmacht gefertigte Büste von Suzette Gontard, Hölderlins „Diotima“. Ein Besuch in diesem einzigartigen Museum lohnt sich. Als die Affäre mit Suzette im September 1798 aufflog, zog Hölderlin zu seinem Freund Isaac von Sinclair in das nördlich gelegene, 1912 zum Bad erhobene Homburg vor der Höhe. Mehrmals lief er von dort nach Frankfurt, um sich heimlich mit seiner Geliebten zu treffen. Wer gut zu Fuß ist, kann sich von Hölderlins Unterkunft in der Homburger Dorotheenstraße auf die 20 Kilometer lange Wanderung begeben, die am Frankfurter Adlerflychtplatz endet.

Das letzte Kapitel des Buches ist Stuttgart gewidmet. Hier, bei seinem Freund, dem Tuchhändler Christian Landauer, hoffte Hölderlin, „eine Zeit im Frieden zu leben und ungestörter als bisher sein Tagwerk tun zu können“. Er erteilte Landauers Kindern Privatunterricht und arbeitete an der Gesamtausgabe seiner Gedichte, die er jedoch nicht vollenden sollte. Im Januar 1801 verließ Hölderlin Stuttgart auf der Suche nach einer neuen Stelle – wieder war er auf der Wanderschaft …

Zu allen beschriebenen Orten finden sich ergänzende Literaturhinweise, es gibt ausführliche Beschreibungen für Spaziergänge in Lauffen, Nürtingen oder Tübingen. Zudem macht der Autor Vorschläge für zwei Fahrradtouren: so kann man sich von Nürtingen aus zu den Wohnorten von Hölderlins Vorfahren begeben oder in drei Etappen mit insgesamt 86 Kilometern von Maulbronn nach Heidelberg fahren – allerdings sollte man dafür auf eine eigene Karte zurückgreifen, sind doch die im Buch enthaltenen etwas klein geraten.

Dieter Balle: Unterwegs mit Friedrich Hölderlin im deutschen Südwesten. verlag regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2020, 160 Seiten, 14,90 Euro.