Wandelbar und stetig – so könnte man das Werk der Berliner Malerin und Grafikerin Sandra Rienäcker bezeichnen. In ihren Bildern – Natur- und Stadtlandschaften, Figurendarstellungen, Porträts und Stillleben – fügt sich die Komposition als unauflösbare Einheit so aus allen Einzelteilen zusammen, dass der Zusammenhang von Farb- und Formrelationen beliebiger Kleinausschnitte bis zu den Bildrändern optimal gespannt, aber störungsfrei verläuft. Störungsfrei – stimmt das wirklich? Wir glauben die Dinge zu kennen, die die Künstlerin zu ihren Arbeiten veranlassen: Gesichter, die wir irgendwo, irgendwann schon mal gesehen haben, scheinbar vertraute Stadtlandschaften, alltägliche Gegenstände. Indem sie sich ihnen aber zuwendet, erscheinen sie in ihrer Sperrigkeit und Widerständigkeit zunehmend rätselhaft und – Tücke des Objekts – oft auch menschlich.
Viele Motive in Rienäckers Arbeiten stehen an wirklichen Orten und man könnte sie auch wiederfinden, aber sie haben bei ihr eine geheimnisvolle Metamorphose erfahren. Sie strömen Melancholie und ein Gefühl von Machtlosigkeit und einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit aus. In dem Bild „Die Beute – Putbus“ (2010) kündigt die martialische Statue, eine überlebensgroße Figur in Uniform links im Vordergrund drohend ein Ereignis an, das der jungen Frau im Hintergrund widerfahren wird.
Die Künstlerin will die Rätsel und Nicht-Sinnhaftigkeiten erfahrbar werden lassen, welche sich hinter dem Schleier des Sichtbaren verbergen. Die Menschen sind entweder zu winzigen, weit entfernten Staffagefiguren zusammengeschrumpft oder sie treten voll ins Bild wie die junge Frau mit dem fragenden Gesichtsausdruck, die linke Hand schützend am Revers, auf ihrem einsamen „Nächtlichen Weg“ (2005) an der diagonalen Häuserfront der Berliner Auguststraße entlang – was hat sie hinter sich gelassen, was steht ihr noch bevor? „Uferfeste (Sassnitz)“ (2008) – die Gesamtszenerie wirkt wie ausgestorben (die Katze rechts unten bemerkt man kaum), der wehrhafte, festungsartige Charakter der auf einem Felsen sich auftürmenden Mietshaus-Architektur wirkt bedrohlich – wie können dort Menschen leben? Aber vielleicht hat dieses Gebäude bisher seine Bewohner vor jeglichen schädlichen Einflüssen der Außenwelt zu schützen vermocht. Das Haus ist zum magischen Gegenüber des Betrachters geworden und starrt diesen ebenso unverwandt an wie dieser das seltsam konstruierte Steingebilde vor sich. Ein Zwiegespräch kann allerdings erst dann stattfinden, wenn der Mensch die gängige Ansicht abgelegt hat, ein Haus sei ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs wie jedes andere Ding, das er geschaffen hat.
Sandra Rienäcker ist eine begeisterte Wagner-Liebhaberin, und sie, die einst selbst den Beruf einer Sängerin ergreifen wollte, hat wiederholt das Festspielhaus Bayreuth am Grünen Hügel dargestellt, bei Tag und in abendlicher Erleuchtung, nach dem Pausenende und nunmehr menschenleer. Doch der Betrachter hat den Eindruck, als würde der Orchesterklang die Stimmen der Sänger gleichsam nach draußen tragen. Es ist das Licht, dass das Bildgeschehen ins Magische, ja Metaphysische hebt, vergleichbar der Musik Wagners, die den Zuhörer ins Traumatische versetzt. Sandra Rienäcker hat einmal ihre Architektur-Darstellungen „bühnenartige Inszenierungen“ genannt, die sie wie ein „Beleuchtungsmeister“ arrangiert habe.
Das Werk Wagners ist für sie zur Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Empfindungen und Denkweisen geworden. Nicht der Wiedergabe der äußeren Handlung, sondern der Aussage, dem „inneren Gehalt“ will sie nachspüren, den Weg über das Auge wählen, um den Betrachter anzusprechen. Die „Ring“-Tetralogie, dieses monumentale Gesamtkunstwerk, bedient sich des Formenreichtums des Welttheaters. Sie ist Schöpfungsmythos, Weltparabel, Mirakelspiel, Haupt- und Staatsaktion, Stationenstück, Masken- und Verwandlungsspiel, Gesellschaftstragödie, Schicksalsdrama, epischer Report und absurdes Endspiel in einem. Leitmotive halten dieses Gesamtkunstwerk zusammen, verknüpfen die einzelnen Teile kontrapunktisch miteinander. So hat Sandra Rienäcker ihre „Ring“-Reminiszenzen in Form eines Bilderfrieses mit vielfigurigen Szenen entwickelt, während sie ihre Bilder zu „Tristan und Isolde“ und zum „Parsifal“ an Schlüsselstellen festmacht, die leitmotivisch Wagners Werke durchziehen.
Diese Leitmotive sind, wie Wagner präzise sagt, „Gefühlswegweiser“. Das gilt besonders für den „Tristan“, in dem es – anders als im „Ring“ – so gut wie keine personengebundenen Leitmotive gibt, sondern fast nur Motive, die auf das Innenleben der Protagonisten bezogen sind. Ihre Eigentümlichkeit liegt nicht in der starren Fixierung, sondern in der von der dichterischen Absicht geleiteten Ab-, Um- und Verwandlung. So wie Wagner Leitklänge und Leitinstrumente auf bestimmte Personen oder Einzelheiten des Bühnengeschehens bezogen hat, leiht Sandra Rienäcker den Bühnenfiguren zur unmittelbaren Selbstaussprache ihre Stimme oder präsentiert dem „tönenden Schweigen“ Wagners vergleichbare Situationen, eine Meerüberfahrt, eine Landschaftsszene, eine eingezwängte Raumkonstruktion, die für Tristans und Isoldes erwünschten Freiheitsverlust und träumerische Selbstvergessenheit, aber eben ohne jeden Handlungsimpetus, stehen.
Ein dichtes Geflecht von Leitmotiven hüllt die Figuren Wagners ein. Wo leiht die Musik ihnen zur unmittelbaren Selbstaussprache ihre Stimme? Wo lenkt und steuert sie die Figuren? Sind die Figuren wirklich frei? Die einzige Zone, in der sich das Reich schrankenloser Freiheit aufzutun scheint, bietet sich in der von Brangänes Taglied überkrönten Nachtmusik dar. Während sie erklingt, sind Tristan und Isolde in eben jenes „tönende Schweigen“ versunken. Kann aber wirklich von Souveränität geredet werden, wenn Tristan und Isolde immer wieder, als wären sie in ihrer Vergangenheit gefangen, „Déjà-vus“ erleben, also Erinnerungstäuschungen, bei denen man glaubt, ein gegenwärtiges Ereignis früher schon einmal erlebt zu haben? Sind sie denn nicht Gestalten, die sich letztlich nicht ändern und ihr Schicksal erleiden, selbst wenn sie zu handeln glauben? Mit „Nachtgeweiht“, so der Titel einer von Sandra Rienäckers Tristan-Darstellungen, setzt der Übergang vom Tag- ins Nachtgespräch der um ihre Liebe Wissenden, in der 2. Szene des 2. Aktes ein. Indem dieses „Nachtgeweiht“, eine Schlüsselstelle für Sandra Rienäcker, auf der Harmonie des Tristan-Akkords zu stehen kommt, öffnet Wagner sozusagen die Tür in die andere Wirklichkeit der Liebenden, die der Tageswelt entglitten sind, weil sie, wie es zum Todesmotiv heißt, während des Trankes „des Todes Nacht liebend erschaut“ haben. Die Zeit scheint stillzustehen. Das Tagesmotiv – eine mediterrane Landschaftsszene – wird bei ihr zum Sinnbild für die Übereinstimmung der Liebenden. „Öd und leer das Meer“, so singt der Hirt am Anfang des 3. Aktes, an Kurwenal, Tristans treuen Begleiter, gewandt. Beide wachen am Meer bei dem im Dämmerzustand, irgendwo zwischen Tod und Leben, verharrenden Tristan, das Eintreffen des Schiffes mit Isolde erhoffend. In Gegendarstellung schaut bei Sandra Rienäcker eine weibliche Figur aus der riesigen Luke der Fähre, so wie sie etwa von Hiddensee regelmäßig verkehrt, aufs Meer und das sich nähernde Land.
So wie Wagners „Tristan“ zwischen dem Züricher Treibhaus-„Asyl“ nahe der schönen Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck, dem Aufenthalt in der Lagunenstadt Venedig und einem Luzerner Hotelzimmer entstanden ist, setzen sich Sandra Rienäckers Bildideen zum „Tristan“ aus tatsächlichen Aufführungserlebnissen (so haben etwa die Blautöne einer „Tristan“-Aufführung in der Semper-Oper Dresden die verschiedenen Blaustufungen ihrer Arbeiten angeregt), subjektiven Stimmungen und Gefühlen, musikalischen Reminiszenzen („ich habe die Musik Wagners in mir“, sagt sie), eigenen Landschafts- und Reiseeindrücken zusammen.
Bei Wagner gesungen werden Seelenzustände, berichtet wird davon, dass der Tag – Metapher für die Gesellschaft – der Liebe Tristans und Isoldes feindlich gesonnen, die Nacht dagegen Erfüllung gewährt. Und das sind die bildnerischen Erlebnisse Sandra Rienäckers: Am Tag ist die Realität präsent, sichtbar in all ihrer Gegenwärtigkeit, mit ihren Forderungen an den Einzelnen; die Nacht dagegen deckt solche Konkretheit zu, verhüllt die Realität, ist daher auch die Sphäre des Gefühls und der Wahrheit, des Einswerdens und des Ineinanderaufgehens der Liebenden. Doch Träume bleiben Träume, und der lange Augenblick der Liebe lässt sich am Ende dann doch nicht dauerhaft festhalten. Die Utopie ist ein schöner Gedanke, ihre Einlösung nicht umstandslos möglich, und man mag fragen, ob überhaupt wünschenswert. So wie Tannhäuser am Ende den Venusberg verlässt, weil eine Liebe, die ununterbrochen eingelöst werden muss, alle menschlichen Kräfte weit übersteigt, so lässt die „Nacht der Liebe“ am Ende Tristan und Isolde nur den Ausweg, den Tod zu suchen oder in die Banalität des Alltags zurückzukehren. Beides kommt freilich auf dasselbe hinaus, denn der Alltag ist zugleich der Tod, weil er das Ende der von beiden geträumten und gewünschten Liebe besiegelt. „Tristan“ ist hier in Sandra Rienäckers Paraphrasen eine bildnerische Entgegensetzung aus dem Geist unserer Zeit gegeben worden.
Richard Wagner hat auf den Grundstein des Festspielhauses schreiben lassen: “Hier schließ ich ein Geheimnis ein…“ Er scheint damit recht behalten zu haben.
Redaktionell gekürzte Fassung der Eröffungsrede unseres Autors zur Ausstellung „Sandra Rienäcker – Malerei und Grafik“, Galerie des Städtischen Museums Eisenhüttenstadt – Fürstenberg (Oder), Löwenstr. 4; Die–Fr 10–16 Uhr, 1. u. 3. Samstag im Monat 13–17 Uhr, bis 2. August.
Schlagwörter: Klaus Hammer, Richard Wagner, Sandra Rienäcker, Städtisches Museum Eisenhüttenstadt