23. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2020

Zadek-Großfamilie auf Shakespeare-Expedition

von Reinhard Wengierek

Er wollte immer, dass wir aufeinander klatschen – Angela Winkler in sarkastischer Erinnerung. Junge Mädchen, die ihm die Zunge raus stecken, mochte er besonders, weiß Eva Mattes. Und alle, die mit Peter Zadek zu tun hatten, wussten, wer bei diesem Regisseur bleiben will, musste sich ihm bedingungslos aussetzen.

Zadek suchte Schauspieler „mit kurioser, kindlich unverstellter Phantasie“. Von Anfang an habe ihn interessiert, was mit Schauspielern gerade los sei. Das sei ihm gleichermaßen wichtig wie die Figur, die sie just zu spielen hatten. Denn er mache Menschentheater. Und das gehe am besten – Zadek pochte stets aufs Beste (und Teuerste!) – mit auf besondere Art verrückten, verspielten, bei aller Willensstärke hingebungsvollen Schauspielern. Doch es waren nicht allzu viele, die – mit Schmerzen, mit Lust – zu diesem so erbarmungslos beobachtenden Tiefdenker, raffinierten Dompteur, gestrengen, gelegentlich grausamen Patriarchen samt Hofstaat passten.

Peter Zadek war für Jahrzehnte eine zentrale Autorität im deutschsprachigen Theater. Er zählte zu den Epoche machenden Erneuerern des versteiften Nachkriegstheaters („den Gips wegsprengen“). Seine Intention: Den Leuten übers Herz den Kopf aufstoßen mit anarchischer Lust und lebensprallem Spiel. Es gab Kritiker, die hielten dieses programmatische Pochen auf Phantasie für Gefühlsduselei. Noch als Achtzigjähriger provozierte der große Zampano seine alten Kritiker und neuen Kollegen: „Mir ist erst mal nichts zu dick, was ein Schauspieler tut. Geschmackvoller machen kann man’s immer noch.“ Ihm genügte, „ein ganz kleines bisschen Wahrheit“ zu finden. Das habe „mit Realismus, Stil, Form“ nichts zu tun, sondern „mit Wahrhaftigkeit, mit Echtheit“. Alles andere sei Schrott.

Das sagt sich flink dahin, ist aber so flott nicht zu machen. Davon erzählt – ein großartiges Dokument! – der Bericht des Schauspielers Klaus Pohl über den exemplarisch problematischen Probenprozess von Peter Zadeks „Hamlet“-Inszenierung im Wiener Volkstheater für die dortigen Festwochen 1999. Ein seinerzeit schon vorab schrill besungenes Großereignis. Höchstspannung lag in der Luft. – Wir erinnern uns: Im neubarocken Riesensaal blieben den ganzen langen Abend die Lüster brennen. Das Publikum sah sich im altgold schimmernden Traum-Raum und schaute auf die Riesenbühne im grauen kalten Welt-Wirklichkeitslicht. Dort stand nichts weiter als ein Transportcontainer, die Menschen-Box, aus der alles Ach und Weh hervorquoll (Szene: Wilfried Minks).

Grundlegend für Zadeks Proben-Methode war: absolute Abschottung, gern mehrere Monate lang (der Albtraum eines jeden Intendanten). Das isolierte Refugium als eine, wie er sagte, Art Freiheitsutopie. Um ohne Blick auf Kosten ungeniert auch Abwegigstes auszuprobieren. Das „Hamlet“-Ensemble quasi interniert – „Großfamilie auf Zeit“; was Großkräche und Kleinzänkereien einschloss, aber auch unvergessliche Glücksmomente und Innigkeiten; von Intimitäten nicht zu reden.

Klaus Pohl zählte zu den seinerzeit Erwählten fürs Shakespeare-Kunstlabor: in der Rolle von Hamlets Freund Horatio. Zugleich jedoch, vom Regisseur genehmigt, in der Rolle eines Protokollanten. Sensationell, was Pohl da – ansonsten noch erfolgreich als Dramatiker aktiv – aus dieser „Zweitrolle“ machte; nämlich sehr viel mehr als die eines Protokollführers. Mit weitem Einfühlungsvermögen, sprachlicher Kraft und, so er selbst, „wohltemperiert dichterischer Freiheit“ ließ er eine „abenteuerlich künstlerische Expedition“ lebendig werden.

Was für eine literarische Einzigartigkeit, dieser weitgefächerte Tiefenblick in den Arbeitsprozess eines immerhin spektakulär erstrangigen Ensembles mit Eva Mattes, Uwe Bohm, Hermann Lause, Otto Sander, Ulrich Wildgruber. Und mit Angela Winkler in der Titelrolle.

Die hatte sich zunächst ausführlich gesträubt, die Rolle anzunehmen. Doch Zadek wollte partout, und widerwillig, angstvoll nahm Winkler schließlich an. Dennoch: Zweimal musste er sie zurückholen, weil sie hinschmiss und abhaute. Was wiederum den Regisseur sonderlich bestärkte und befeuerte (wir erinnern uns: wenn ihm Mädchen die Zunge raus stecken).

Im Gedächtnis steht die Winkler vor uns im weichen Schlabberpulli und in Strumpfhosen. So passte sie auf Shakespeares Wittenberger Campus, aber auch – und erst recht, als sie mit Lederjacke kam, – auf den einer Uni von heutzutage. Ihr Hamlet entstammte unterschiedlichen Sphären: Einer aristokratisch kontemplativen, einer aggressiv revoluzzerischen. Sie war in sich gekehrt, aber auch brennend. War naiv idealisch und aufgeklärt abgeklärt. Aus ihrem Hamlet krachen Wutexplosionen, in ihm schwelen Vergeblichkeitswunden. Er will rührenderweise die aus den Fugen geratene Welt wieder einrenken. Doch eine geheimnisvolle Gelassenheit sagt: Let it be …

Das alles, das Wilde und Wehe brachte die damals 55 Jahre alte Schauspielerin in eins. Wer es nicht erlebte, Pohls Proben-Beschreibungen machen es erstaunlich nachvollziehbar. Wie überhaupt Zadeks Sicht aufs Stück: Die Erzählung eines mächtigen Wollens und tapferen Scheiterns.

Solch Ambivalenz-Zauber will gekonnt sein, eingeübt, eingefühlt, auch eingedroschen. Die Winkler – und so manch einer ihrer berühmten Mitspieler im Übungscamp wohl auch – wäre fast daran zerbrochen.

Gerade auch davon ist aufregend die Rede in „Sein oder Nichtsein. Erinnerungen an Peter Zadeks legendäre Hamlet-Inszenierung“. In Klaus Pohls hochdramatischem Probenroman, diesem genauen, weit und wuchtig ausholenden Text, der zugleich ein betörender Liebesroman ist. Und mit Shakespeare, Zadek & Co. auch ein intimer Familienroman.

Hat doch hier ein ganzer Haufen Superstars voller Animositäten, Mimositäten, Euphorien, Erfahrungen, voller Saft, Kraft und Können Monate lang intensiv-extensiv zusammengelebt. Zunächst im koproduzierenden Théatre National de Strasbourg (und in Elsässer Kneipen); später dann – während der Endproben – in Wien.

Unglaublich, dass Pohls Text-Konvolut noch ungedruckt im Schrank liegt. Was für ein Schatz so ziemlich im Geheimen. – Doch vor drei Jahren las der Autor-Schauspieler sein Manuskript im Hamburger Fleetstreet-Theater. Ein Marathon, fünfeinhalb Stunden lang. Glücklicherweise gibt es einen Mitschnitt, der seltsamerweise erst jetzt als CD wenigstens zum Mithören vorliegt.

Klaus Pohl: „Sein oder Nichtsein“, Der Audio Verlag, Berlin 2020, mp3-CD, 324 Minuten, 10,00 Euro.