23. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2020

Subjektivierter Kapitalismus

von Bernhard Romeike

Ein Autor, der manchen Westlinken als ein erwähnenswerter Verfasser marxistischer Richtung gilt, heißt Werner Seppmann. Ein vor fast zehn Jahren publiziertes Buch hieß „Risiko-Kapitalismus“. Abgesehen davon, dass der Titel der „Risikogesellschaft“ des Soziologen Ulrich Beck – dessen Band war 2003 erschienen – abgeborgt war, war sein Einstieg in die Kapitalismuskritik bemerkenswert. Es begann mit einem Verweis auf die Folgen der Finanzkrise von 2008: „Prognosen über einen Niedergang des Kapitalismus waren offensichtlich wieder einmal verfrüht“, trotz Weltwirtschaftskrise. Dafür machte Seppmann die „ideologischen Apparate“ verantwortlich. Obwohl er bei anderen Autoren mangelnde Kapitalismuskritik und ungenügenden Bezug auf Marx monierte, kam er nicht mit diesem auf das Problem, wie das herrschende kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem jene Kräfte bereitstellt, die zur Bearbeitung von Krisen bisher immer noch hinreichten. Die Fortexistenz „des Kapitalismus“ wurde bei Seppmann zu einer ideologischen Frage, nicht zu einer nach der ökonomischen Basis. Unter der Hand wurde „der Kapitalismus“ zu einem handelnden Subjekt, das „seine triumphalistische Selbstgefälligkeit“ verbreite und es verstehe, „die Menschen emotional und geistig an sich zu binden“.

An jenes unerquickliche Lese-Erlebnis musste ich kürzlich denken, als ich in einer – dem Selbstverständnis nach „sozialistischen“ – Tageszeitung im Text eines Autors namens Peter Richter lesen durfte, Covid-19 sei „Indikator eines Systemversagens“, nämlich „des“ Kapitalismus. Die Argumentationsfigur wie vor zehn Jahren bei Seppmann: „Und dieses Systemversagen zeigt sich auch in der Unfähigkeit des Kapitalismus, aus Krisen zu lernen.“ Das ist nicht etwa halbwahr, sondern ganz falsch. Wer sich mit der Geschichte des Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftssystem jemals ernsthaft beschäftigt hat weiß, dass es unterschiedliche Phasen und dementsprechend Regulationsweisen gab: den Kapitalismus der freien Konkurrenz, mit dem sich Marx zunächst beschäftigt hatte, danach den Monopolkapitalismus, den Engels und auch Lenin analysierten, dann den „Fordismus“ nach dem zweiten Weltkrieg und schließlich den finanzmarktregulierten Kapitalismus nach dem Kalten Krieg, dessen Privatisierung und Finanzialisierung der Öffentlichen Daseinsvorsorge und dessen geschaffene globale Wertschöpfungsketten sich in Zeiten der Pandemie gerade als Achillesferse der Krankheitsbekämpfung erwiesen haben.

Den Übergängen zwischen diesen Regulationsweisen lag stets ein Lernprozess zugrunde. Aber eben nicht „des Kapitalismus“ als eines überirdischen Subjektes, sondern es waren stets mächtige Wirtschaftsbosse, Finanziers und Politiker, die jeweils konkrete Entscheidungen trafen, um konkrete, aktuelle Probleme der Produktion und der Kapitalverwertung zu lösen. Im Falle des Übergangs zum Fordismus ist das in Bezug auf den Autokönig Henry Ford („Autos kaufen keine Autos“) sowie die Rolle des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes und von US-Präsident Franklin D. Roosevelt gut erforscht. Gleichwohl geistert immer wieder die Subjektivierung „des Kapitalismus“ durch die Publizistik. Es ist eine Grundgestalt vulgärmarxistischen Denkens. Und man spart sich die Mühe ernsthafter Befassung mit wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftlicher Analyse. Auf dieser Ebene liegen denn auch Artikelüberschriften wie „Der Neoliberalismus tötet“. Sind da keine verantwortlichen Menschen, konkrete natürliche oder von Menschen geschaffene Strukturen und Institutionen? Die politisch auch änderbar sind?

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt „des Kapitalismus“. Nachdem ich las, dass die Verantwortlichen die Fußball-Bundesliga anpfeifen lassen, die Kindertagesstätten aber weiter restriktiv behandelt werden, hatte ich eine Bemerkung im Forum des Blättchens deponiert: „In diesem unserem Lande wird die Bundesliga wieder angepfiffen – mit Geisterspielen, aber Einnahmen aus Fernsehmitteln. In der Schweiz forderte der dortige Fußballverband vom Bund 200 – 250 Millionen Franken, um Corona zu überleben; er brauche staatliche Bürgschaften und Kurzarbeitergeld. Wenn nichts passiert, so der Verbandspräsident Heinrich Schifferle, dann werde der Profifußball ‘bald anders aussehen’. Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte ironisch: angesichts von der Realität völlig abgehobener Spielergehälter wäre das vielleicht gar nicht so schlecht. In Deutschland will man die erhalten. Ein schönes Plakat von Klaus Staeck aus dem Jahre 1997 präsentierte die Losung: ‚Ein Volk, das solche Boxer, Fußballer, Tennisspieler und Rennfahrer hat, kann auf seine Universitäten ruhig verzichten‘. Das gilt nun auch für Kinderkrippen. Ob dafür noch die altvorderen Seelenkrüppel verantwortlich sind oder neu gewachsene, vermag ich nicht zu sagen. Eher ist es nicht eine Seelen- sondern eine Geldfrage.“

Daraufhin wurde ich belehrt: „Na, so geht eben Kapitalismus. Das haben wir doch schon in der Schule gelernt.“ Nebenbei: Erich Mielke, der in Personalunion Minister für Staatssicherheit, SED-Politbüromitglied und Chef des Berliner Fußballvereins BFC Dynamo war, hätte gewiss auch ein Weiterspielen der Oberliga erwirkt, wenn sein Verein bei Pandemie-Abbruch nach Punktestand nicht Jahresmeister gewesen wäre. Ganz ohne Kapitalismus. Das haben wir auch in der DDR gelernt, allerdings nicht in der Schule.

Abgesehen davon, dass ein solches Schulmeistern in Sprache, Gestus und Selbstgewissheit durchaus noch von Familie Honecker hätte kommen können, ist tatsächlich auch daran die DDR zugrunde gegangen, nämlich an primitivem Vulgärmarxismus.

Mein Verweis auf die zeitgleich argumentierende Neue Zürcher Zeitung hatte im Übrigen deutlich gemacht, dass man unter gleichen kapitalistischen Bedingungen – nach meiner Kenntnis trifft eine solche Charakterisierung auch auf die Schweiz zu – durchaus unterschiedliche politische und wirtschaftliche Entscheidungen treffen kann. In Frankreich wurde Ende April eine Beendigung der Ligue 1 erklärt, in der Schweiz läuft es dagegen auch auf Geisterspiele hinaus.

Der entscheidende Punkt ist: Unter Bedingungen des Kapitalismus können Windräder, aber auch Verbrennungsöfen für Vernichtungslager produziert werden, Kanonen und Küchengeräte, gesunde oder ungesunde Lebensmittel. Entscheidend ist nicht „der Kapitalismus“, sondern sind die gesellschaftliche, auch politische und staatliche Regulierung der Nachfrage und der Produktionsbedingungen. Hygiene-, Steuer- und Abgaberegeln, Umweltstandards und Gewerkschaftsrechte entscheiden über die kapitalistische Produktion mit.

Und was den Fußball anbetrifft: Das Endspiel der Saison 1941 fand am 22. Juni im Berliner Olympiastadion statt. Sieger wurde Rapid Wien gegen Schalke 04. Da waren die Leute abgelenkt und dachten nicht so sehr darüber nach, wie der Überfall auf die Sowjetunion, der just an jenem Tage begann, wohl ausgehen werde.