Weil er mit sieben grünen Ulbricht-Zehnern frankiert ist, hatte ich den Umschlag eines Eilbriefs aufbewahrt, dessen Absender ich ebenso wenig kenne wie seinen Empfänger, und der mich heute fast als Letztes an eine Geschichte erinnert, die vor mehr als vierzig Jahren begonnen hat. An der Akademie der Wissenschaften war ich damals angestellt, und trotzdem kam ich aus meiner dunklen, kalten Hinterhof-Hütte im Bötzow-Viertel nicht heraus. Bis ich von leerstehenden Wohnungen in einem halbwegs akzeptablen Altbau hörte, Schwedter Straße, der schon manchen ohne Zuweisung Quartier geboten hatte, und dort, nicht weit weg von der Mauer, wo die Straßenbahn-Linien 4 und 13 endeten, bin ich wenig später eingezogen. Als vor einigen Jahren unser Freund und einstiger Mitbewohner L. beerdigt wurde, war immer wieder vom Leben in diesem Haus die Rede, von den Hoffnungen, vom Überschwang des Beginnens. Es gab viel zu befreien hier: Jungs, wollt ihr ficken? hatten Besetzerinnen von Fenster zu Fenster quer über den großen Hof gerufen. Den gemeinsamen Hof der Nummern 47 und 48, die zusammengehörten durch die Beziehungen zwischen denen, die hier Wohnungen in Besitz genommen hatten, nach und nach und möglichst unbemerkt. Zwar hatte die Staatsmacht in unserem Stadtbezirk damals, Mitte der Siebziger, schon die Übersicht verloren, Vorsicht war aber noch immer angebracht. Wir haben daher auch fast alle Miete gezahlt. Steuern sowieso.
Manches lief unter uns nicht so, wie es sollte; anders gelebt als die meisten im Lande haben wir dennoch: D., Besetzer der ersten Stunde, hat mir Bahros Alternative geliehen, R. die Fahrradkette geflickt, ich half ihm später bei seinen Fotoausstellungen. Gemeinsam sind wir mit den Rädern in den Berliner Norden gefahren, ein großer Pulk mit Luftballons am Lenker, gemeinsam haben wir den morschen Zaun abgerissen, der anfangs noch den Hof geteilt hatte, und gefeiert unter den großen alten Kastanien hinterm Quergebäude.
Doch ich wollte vom Ganzen des Lebens in diesem Hause erzählen. An vielerlei kann ich mich erinnern, müsste es nur ordnen und zusammenfügen. Durch Handlung vielleicht? Aber die interessiert mich nicht mehr. Besser, ich stelle mich vor den Seitenflügel der Nummer 48, schaue an der zernarbten Fassade empor, eins, zwei, drei, vier, fünf … fünf Stockwerke, und versuche mich anhand meiner Erinnerungen von Etage zu Etage bis zu den Wohnungen ganz oben hochzuarbeiten. Oder bis zum Dachboden sogar, wo manches von den großen Zeiten des Hauses zeugte: aus Bettbezügen genähte, mit Knüllpapier ausgestopfte Riesenpuppen, die bei einem Fest rundum aus den Fenstern gehangen hatten, Wandzeitungszubehör, ein goldener Lorbeerkranz aus Pappe. Irgendwann flog bei einer Entrümpelung alles auf den Hof.
Dort unten, im Erdgeschoß, war die Bäckerei, die viel Krach und Dreck machte: rechts die Backstube, links der Lagerraum. Wie es früh am Morgen war, weiß ich nicht, aber wenn der Laden an der Straße nachmittags um Drei wieder öffnete, standen die Kunden schon Schlange. Dann ging der alte Meister in Rente, der neue war ein Hallodri, und bald war es mit der Schlange vorbei.
Vor dem Haus stand in den siebziger Jahren ein Zeitungskiosk; auch da stellten sich Tag für Tag ein paar Leute an. Denn kurz vor Eins … Siehste den, den da hinten, dis issa! … kam ein Bote mit der BZ am Abend. Die BZA, angeblich das Herzblatt des Berliners, brachte auf sechs bis acht Seiten viel Lokales und das Benno-Suchbild mit den sieben Änderungen. Noch etwas habe ich erst bei L.s Beerdigung erfahren: Wer pleite war, konnte sich am Kiosk kleine Summen leihen.
Aufstieg zur ersten Etage: An den Wänden, auf der Treppe ein brauner Film, Öl, das sich beim Backen verflüchtigt und dann mit Mehlstaub gemischt hat. Die Wohnungstüren noch mit Briefschlitz und Klappe. Die Räume zur Linken standen damals leer, rechts bin ich eingezogen, kurz vor dem langen, kalten Winter 78/79. Die Toilette, halbe Treppe tiefer, war zu der Zeit die einzige im Seitenflügel, die benutzbar war, aber selbst hier musste man aufpassen, besonders am Wochenende, wenn nicht gebacken wurde: Binnen weniger Stunden konnte die Druckspülung einfrieren. In der kleinen Küche stand ein alter Herd, den ich nie angeheizt habe, im großen Zimmer mit dem dreiflügeligen Fenster ein neuerer Kachelofen – aber woher hatte ich die Kohlen? Man bekam sie, letzter Rest eines alten Systems, auf Karte, musste aber polizeilich gemeldet sein, und das war ich nicht.
Als der Winter überstanden war, überließ ich K. die Wohnung, zog zwei Etagen höher, wo es ruhiger war. K., gerade erst 18, war mit L. liiert gewesen, war es jetzt mit dem glücklosen Schauspieler aus dem Seitenflügel gegenüber, der manchmal längere Zeit unterwegs war und an dessen Tür dann der Zettel hing: Leute, brecht die Wohnung bitte nicht noch einmal auf, es ist schon alles geklaut! Zettel ersetzten auch die Türschilder, wurden manchmal schon angeheftet, wenn man nur die Absicht hatte einziehen. K. behielt die Wohnung über Jahre, behielt sie noch, als sie im Erzgebirge studierte. Einmal kam sie mitten im Winter abends ins verschneite Berlin, und wir gingen zusammen ins Schwedter Eck. Als sie auszog, ließ sie den alten Schrank stehen, den sie von mir übernommen hatte, ich baute den ovalen Spiegel aus und verscherbelte ihn bei A&V. Später gab es viel Hin und Her um diese Wohnung, drei oder vier ausgebaute Schlösser lagen hinter der Tür. Auf dem Treppenabsatz stand längere Zeit ein Karton, worin zwischen allerlei Hausrat der erwähnte Eilbrief lag. Wer das alles hinterlassen hatte, war nicht zu erkennen.
Schließlich zogen zwei Punk-Mädchen ein, die beide mit Freund aus Thüringen nach Berlin gekommen waren, Berlin, dem Ort der Freiheit. Die zwei Freunde waren bald fort, die Mädchen blieben fast ein Jahr, bewohnten nur die Küche. Eine campierte dort später noch einmal kurz, ließ die Tür zuletzt offen: Das große Zimmer stand leer, in der Küche lagen ein paar Matratzen auf dem Boden, auf dem Tisch fand ich einige Pfennige und einen Zettel mit einer Nachricht der einen für die andere: Sie sei auf dem Markt, wo sie arbeitete, verdächtigt worden, hundert Mark aus der Kasse genommen zu haben, und komme nicht mehr zurück.
Jetzt müsste ich noch über den schwulen Kellner aus der Wohnung darüber schreiben, der manchmal so besoffen nach Hause kam, dass er die Tür nicht aufkriegte; über den Maler aus der Wohnung gegenüber, den ich als Zeugen benannt hatte, als ein verdächtiger Typ auf der Treppe herumgeschlichen war, der wahrscheinlich das Feuer auf dem Dachboden gelegt hatte – und dann war mir eingefallen, dass der Maler hier gar nicht gemeldet war; über den asthmakranken Lehrer aus dem Vorderhaus, der einmal im Jahr bei uns um Spenden für die Listensammlung der Volkssolidarität bat, und jeder von uns gab drei oder fünf Mark; über mein defektes Fahrrad, das ich oben neben der Wohnungstür abgestellt hatte und das trotzdem geklaut worden ist; über den VP-Einsatz wegen einer alten DDR-Losung, die ich bei uns im Treppenhaus angebracht hatte, aus ästhetischen Gründen, wie ich auf der Wache erklärte; über C., der eines Abends vom Hof aus nach mir gerufen hatte, weil er wissen wollte, ob jemand nach ihm gefragt habe, C., der zu drei Jahren NVA gepresst worden war, denn er hatte studieren wollen, bei der Armee einen Suizid versucht hatte, entlassen wurde, nun aber nicht mehr studieren durfte, Kellner wurde und soff. Doch ich konnte ihm nichts sagen; tags darauf ist er aus dem Fenster gesprungen und im Krankenhaus gestorben. Auch über die unterschlagenen Briefe müsste ich schreiben, die ich in der Wohnung ganz oben gefunden habe, in der einst M. gewohnt hatte und in der noch ein paar von ihm hinterlassene Möbel standen. Über all das und vieles mehr, für das ich noch immer keine Form gefunden habe.
Nach knapp einem Jahrzehnt habe ich das Haus in der Schwedter Straße verlassen. Die Monate zuvor war ich schon allein in meinem Seitenflügel. Auch das Quergebäude stand leer, war nach schwerem Wasserschaden geräumt worden. Ich wanderte treppauf, treppab und schaute in die verlassenen Wohnungen, die fast alle offenstanden. Eine hatte sich ein Junge als Geheimbude eingerichtet. Manchmal habe ich mich zuletzt in L.s Wohnung aufs Fensterbrett gesetzt, habe Bier getrunken, geraucht und hinausgeschaut, über den Dächern blinkte der Fernsehturm, der Hof lag weit unten, ich war hier allem entrückt, es waren glückliche Momente. Glücklicher noch war ich, als mich eines Abends eine sehr gut aussehende blonde Theologiestudentin besuchte und mit mir ins Bett ging. Aber nur dieses eine Mal. Sie war zwei Wochen an der Ostsee gewesen, war gerade erst zurück und hatte ihren Freund, der einen Ausreiseantrag gestellt hatte, nicht mehr angetroffen: Sein Antrag war bewilligt worden, er musste tags darauf schon das Land verlassen und hatte sich von ihr, weil er ihre Urlaubsadresse nicht wusste, nicht einmal verabschieden können. Doch das habe ich erst viel später erfahren.
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