Wenn es äußere Umstände erfordern, dass man im Zimmer sitzt, wie „Hieronymus im Gehäus“, so bringt das auch Vorteile mit sich. Im Denken und Tun. Ich nahm ein Buch zur Hand, von einem Freund geschenkt mit dem Vermerk: Jetzt wäre die geeignete Zeit, darin zu blättern. Es waren die „Lebenserinnerungen eines deutschen Malers“ in einer Ausgabe von 1923. Ich begann zu lesen und wurde eingebunden in das Zeitgeschehen des 19. Jahrhunderts und in ausgewählte Lebensjahre des Malers, Zeichners, Kupferstechers und Illustrators A. L. Richter. Von Beginn an fesselten mich die stimmungsbetonte, sprachlich ausgewogene Darstellung der Geschehnisse und der feine, nie verletzende Humor.
Deutlich bleiben dem jungen Ludwig die bescheidenen Familienverhältnisse in Dresden im Gedächtnis, ebenso die Tischgäste, zumeist ältere, etwas kauzige Herren, die sich einfanden. Im elterlichen Haushalt lernt er die Schweizer Maler Anton Graff und Adrian Zingg kennen. Bei den Großeltern liebt er besonders ihre Gärten. Die Blumen und Düfte und ein Hauch von Poesie „entzückten“ ihn.
Die Kriege aus den Jahren 1811 und 1813 hinterlassen nichts als Schauder und Schrecken. Beim Durchzug der Truppen in Dresden sieht der Junge den Kaiser Napoleon: „Ich habe den Ausdruck dieses Gesichts nicht vergessen. Ein unbewegliches und unbewegtes Gesicht, […] Sein Ich war die Welt, die Dinge um ihn nur die Zahlen, mit denen er rechnete.“ – Zwei Tage nach der Schlacht im August 1813 geht er mit seinem Vater auf das Schlachtfeld: „Wenn ich später von Schlachten las, von großen, herrlichen Siegen, […] so mußte ich immer mit Entsetzen an das Ende denken, an das Schlachtfeld.“
Vater Carl August Richter, Zeichner und Kupferstecher, erkannte die besonderen Fähigkeiten des Sohnes und hielt ihn beizeiten zur Mitarbeit an. Nie nach seinen Berufswünschen gefragt, sollte Ludwig, wie der Vater, Zeichner und Stecher werden. Aber die eigene Vorstellung verfolgte andere Wege, nämlich den Gedanken „[…] daß Malen noch etwas viel Herrlicheres sei als Kupferstechen.“
Durch Fürsprache und ein kleines Stipendium erhielt Richter zusätzlich Unterrichtsstunden an der Dresdner Kunstakademie. Gewiss bedeutete dies eine Bereicherung. Doch spürte er bald die Enge des Akademiebetriebes, festgefahren in „Regeln und stereotypen Formen und Formeln, […] daß ein lebendiges Naturgefühl […] nicht zum Ausdruck kommen konnte“. Seine große Sehnsucht blieb die Malerei.
Ludwigs Bildungshunger drängt nach neuen Erkenntnissen und nach „Kulturmitteln“. Er liest viel, lernt Französisch, auch Tanzen und Musizieren. L. R. spielt die Flöte. Es ist nicht sein bevorzugtes Instrument, „doch tröstete ich mich damit, da es Friedrich dem Großen anständig gewesen, so könne ich mich auch damit begnügen“. – Die erste Liebe regt sich. Auguste Freudenberg heißt die Angehimmelte. Beide finden behutsam zueinander. Aus der ersten Liebe wird eine große Liebe und „Gustchen“ in späteren Jahren … Frau Richter.
Ein wichtiges Ereignis kündigt sich an. Freunde der Familie lassen anfragen, ob Adrian Ludwig Richter, der Siebzehnjährige, bereit sei, an einer Reise nach Südfrankreich teilzunehmen. Angestrebt von dem Oberkammerherrn am russischen Hofe Alexander Lwowitsch Naryschkin, einem Kunstenthusiasten, Bonvivant und Verschwender. Der junge Richter sollte als Berichterstatter die Fahrt in Skizzen festhalten. Seine fantasievollen, präzisen Zeichnungen hatten ihn empfohlen. – „Es war an einem der letzten Novemberabende. Schnee und Regen wirbelten durcheinander. […] Ich war endlich froh, als der Leibeigene Michal mich in den letzten Wagen verwies. […] So ging es denn nahe gegen Mitternacht in die stockdunkle, kalte, nasse Nacht hinaus.“ Die Welt stand offen.
Über Weimar führt die Reise nach Frankfurt. Die Bergstraße mit Burgen und kleinen Städten und das Neckartal in der Winterlandschaft begeistern Ludwig. Abendliche Gespräche, honorige Gesellschaften, an denen er teilnehmen darf. Er fühlt einen Unterschied zwischen der „geistvollen Humanität“ eines deutschen Fürsten und seiner russischen und deutschrussischen Begleitung. Karlsruhe nennt die Reisegesellschaft „Klein Petersburg“. – Der Mitreisende W. von Küchelbecker, Lyriker und Freund Puschkins, wird sein Vertrauter.
In Straßburg überwältigt den jungen Künstler „die Riesenpyramide des Münsterturmes“, während Naryschkin mehr von der Straßburger Gänseleberpastete hielt, als vom gotischen Münsterbau. – Richter zeichnet und zeichnet. Naryschkin treibt an. Die Eindrücke überschlagen sich: Das Museum in Lyon, in Avignon die alte, berühmte Brücke und der Papstpalast, die südliche Vegetation in Aix. Und endlich das Meer in Marseille. „Ich fühlte mein Glück, ein vor wenigen Monden nie erhofftes.“ Doch es blieb nicht ungetrübt. „Es fehlte eins – die Freiheit!“ Ein längerer Aufenthalt in Nizza brachte ihm die Bekanntschaft eines livländischen Malers. Von ihm erfuhr er, dass sich in Rom eine neue Kunstrichtung herausbildete. Das weckte die alte, neue Sehnsucht. – Im Juni 1821 nahm er in Dresden seine Eltern wieder in die Arme. Und auch „Gustchen“. „Da gab es gegenseitig viel, viel zu erzählen, und es ist wohl mehr als wahrscheinlich, daß wir uns auch geküßt haben.“
Das Fernweh nach Italien blieb. Zumal viele junge Künstler, wie in einen Sog geraten, nach Rom eilten. Ein Wunschtraum? Keineswegs! Der Verlagsbuchhändler Johann Christoph Arnold, der die Arbeiten von Vater und Sohn Richter schätzte, leitete das Wunder ein: „[…] da er wisse, wie mein Sehnen auf Rom stehe, so möge ich recht bald mein Bündel schnüren und ihm die Sorge für das Reisegeld überlassen.“
Das Jahr 1823. Nach Hof mit der Postkutsche. Nach Nürnberg zu Fuß. Von München nach Tegernsee in einer Zwölfstundenwanderung. Nachfolgend heftiger Muskelkater. Die Alpen türmen sich auf. Ein grandioses Bild. „Es war so schön und einzig großartig, daß ich mich setzen mußte, von diesem Anblick hingenommen.“ Er geht durch Alpentäler, über Pässe und erreicht am 24. August Innsbruck. Ludwig gönnt sich Rasttage, hält Umschau und pflegt neue Bekanntschaften mit Gedankenaustausch: „Bisher schien mir die neuere Kunstrichtung vorzüglich in der Rückkehr aus dem Manierismus zur Natur zu bestehen; ich sah nun, daß noch ein drittes dazu kam: der Geist der Poesie.“
Der Wanderer nimmt die Route Verona – Bologna – Florenz – Rom. An der Porta del Popolo erhält er den Passierschein mit dem Eintrag, „daß ‚il Signor Landschaft‘ am 28. September einpassiert sei“.
„Welch glückseliges Erwachen brachte nun der Morgen! Ich mußte mich einen Augenblick besinnen, ob ich wirklich wach sei oder vielleicht nur träume, ich wäre in Rom.“ – Angekommen in der gelobten Stadt, beginnt für Ludwig Richter ein neues Leben. Begegnungen mit Künstlern, deren Namen er vorzeiten kaum kannte: Overbeck, Schnorr von Carolsfeld, Veit, Thorwaldsen, Koch. Geistiger Austausch, Freundschaften werden geschlossen, Ausstellungen veranstaltet und abends Treffen in der „Osteria di Tritone“; Ausflüge in die Sabiner und Albaner Berge. Adrian Ludwig ist berauscht von der „hohen Formenschönheit“ der Landschaft.
Von Tag zu Tag wechseln die Bilder. Neapel, Amalfi, Capri. Die Skizzenbücher füllen sich. – Doch der dreijährige Aufenthalt unter südlichem Himmel geht zu Ende. Die Heimreise beginnt. Im Schritttempo! „In Nürnberg war nun meine lange Fußwanderung zum Abschluß gekommen. Von hier fuhr ich mit der Post nach der lieben Vaterstadt zurück.“
Die „italienischen Jahre“ bleiben dem Maler unvergessen und beeinflussen auch das weitere Schaffen. Viel später erst findet er Zeit, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Sie beginnt: „Am 28. September 1803 erblickte ich das Licht dieser Erde, und zwar in der Friedrichstadt, einer Vorstadt von Dresden […].“
Schlagwörter: Ludwig Richter, Renate Hoffmann