Still und einsam ruht das schwarze Stahl-Skelett im Wasser. Der Steg des Piers, wie die Seebrücke in der englischen Sprache heißt, existiert nicht mehr, die Verbindung zum Festland ist somit unwiderruflich gekappt. Bis heute konnte der West Pier von Brighton nicht mehr aufgebaut werden und vegetiert seitdem traurig vor sich hin. Zwei mutwillig gelegte Brände und mehrere Sturmfluten zerstörten Anfang der 2000er Jahre endgültig das wohl bedeutendste Wahrzeichen der Stadt, das der Architekt Eugenius Birch (1818–1884) entworfen hatte und das 1866 nach drei Jahren Bauzeit endlich für die staunenden Besucher freigegeben worden war.
Da hatte sich Brighton schon längst einen gewissen Ruf erworben. Schuld daran war König George IV., der 1823 den opulenten „Royal Pavilion“ hatte bauen lassen, ein Meisterwerk der englischen Exzentrik im damals populären orientalischen Stil. George hatte es faustdick hinter den royalen Ohren, er brachte nicht nur seinen Hofstaat mit ans Meer, sondern auch seine ständig wechselnden Geliebten. Das „schmutzige Wochenende“ war geboren, das in den englischen Sprachgebrauch als dirty weekend einging. Und sie folgten ihm: die Aristokraten, die Reichen und die Schönen, verlustierten sich in Brighton und Jahre später dann natürlich auch auf dem West Pier. Wenn er überfüllt war, ließ er die ungezählten Menschen zu einer homogenen Masse werden, die die Klassenunterschiede verdrängte, und erst wenn man wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wurden sie sichtbarer. Menschen mit reich gefüllter Brieftasche schlürften Cocktails im alt ehrwürdigen Hotel Metropole, die anderen strömten in die Pubs und huldigten dem übermäßigen Biergenuss. Der Pier war Verlockung, Verheißung zugleich, und nahm man ihn in der Ferne war, wurde ganz automatisch auch der Vergnügungsmodus eingeschaltet.
Doch eine Art Vergnügungspark auf hölzernen Stelzen zu erschaffen, war ursprünglich nicht das Anliegen des Architekten gewesen. Der Pier sollte den viktorianischen Damen und Herren vor allem die Möglichkeit geben, möglichst elegant und trockenen Fußes über das Wasser zu flanieren, ohne dabei seekrank zu werden. Ohnmächtig wurde manche junge Dame aber gelegentlich dennoch, was wohl am zu engen Korsett gelegen haben mag oder an einer arg theatralischen Geste, wenn ein von ihr angebeteter Jüngling unter den wachsamen Augen der Frau Mama vorbei schritt. Denn das Flanieren auf dem West Pier gehörte zwingend zu den Highlights von Brighton, was sich zunächst aber auf eher zahlungskräftige Urlauber beschränken sollte. So wurden die Besucher des Piers stets auch zur Kasse gebeten, um eine gewisse Exklusivität zu gewährleisten, die aber im Laufe der Zeit bröckelte. Denn trotz Eintrittsgeld strömten die Massen auf den Steg, im Jahr 1875 waren es bereits über 600.000 Menschen. Immer öfter machten sich auch Heerscharen von Fabrikarbeitern auf den Weg ans Meer. Ihre ursprünglich menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen hatten sich zunehmend verbessert und in den 1890er Jahren hatten sie sich einen freien Tag am Samstag erkämpft. Auch für sie wurde der West Pier zu einem Ort des ungebremsten Vergnügens, bis man am Sonntag wieder zurück in die ungeliebte Fabrik musste, wo man die ganze Woche schuftete und den freien Tag herbeisehnte.
In den Jahren 1918 und 1919 stieg die Besucherzahl schließlich auf eine Rekordhöhe von zwei Millionen. Dann brachte der Zweite Weltkrieg die Zäsur, als viele Menschen das Gefühl hatten, dass nichts mehr so sein würde wie früher und viele Träume ausgeträumt waren. Hinzu kam, dass man mit dem viktorianischen Zeitalter und seinen Bauten sowieso mental abgeschlossen hatte. Dabei hatte sich der Pier doch alle Mühe gegeben. Von kleinen Anfängen mit Schaubuden, wie zum Beispiel einem Flohzirkus, hatte er sich zu einem prächtigen Vergnügungspark entwickelt mit einem großen Pavillon als Hauptattraktion, wo die Orchestermusik lockte. Der Pier war auch ein vertrautes Wahrzeichen der Stadt, das Reisende schon vom Zug aus sehnsüchtig erwarteten. Natürlich hatte der West Pier, abgesehen von seinem Vergnügungsfaktor, auch ganz individuelle Bedeutungen und Funktionen für die Menschen, für das Gros der Besucher bildete er jedoch durchgängig eine Art Mikrokosmos, der alle denkbaren Vergnügungen am Meer auf kleinstem Raum bot.
Ein faszinierendes Denkmal setzte der britische Autor Patrick Hamilton dem „Traumsteg ins Meer“ 1951 in seinem Roman „The West Pier“, der in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt war und der für Graham Greene der beste Roman war, der je über Brighton geschrieben wurde. Darin zerstörte Hamilton absichtlich den für Brighton ganz zentralen Mythos der Seebrücke, denn sein Bild davon war konsequent negativ besetzt. Für ihn war der Pier ausschließlich vom Ritual des „getting off“ geprägt, was man in etwa mit „die Anbahnung von Kontakten zwischen den Geschlechtern“ übersetzen könnte. Diese Sichtweise entsprach in Teilen sicherlich auch der Realität, war aber in gewisser Weise den Traumata einer schweren Kindheit des 1904 in Hassocks bei Brighton geborenen Hamilton geschuldet, dessen Vater ein unzugänglicher Despot, Weiberheld und Alkoholiker war. Hamilton konnte nicht anders, sein Brighton leuchtete nicht wie im Werbeprospekt auf Hochglanzpapier, sondern enthielt ganz real auch zutiefst menschliche Abgründe. Schonungslos demontierte er seine Protagonisten, bis sie fast satirische Züge annahmen, persiflierte den ewigen Lauf der Dinge, in Brighton, am West Pier, der für ihn eher ein Symbol des Lasters und der Lügen war.
Hamilton war in Hove aufgewachsen, das sich vielleicht immer ein wenig für etwas Besseres hielt. Gediegene viktorianische Bauten, die in hellstem Weiß jungfräulich strahlen, zeugen noch heute vom Reichtum des einst eigenständigen Stadtteils von Brighton, während in der Ferne die Diskokugel grell leuchtet, der Beat pulsiert und über allem wie eine apokalyptische Vision die Ruine des West Piers mahnend wacht. Dessen Betrieb wurde bereits 1975 eingestellt, weil man den Koloss einfach nicht mehr rentabel finanzieren konnte. Von der Zäsur des Zweiten Weltkriegs hat er sich tatsächlich nie wieder erholt, und schließlich rüstete die Stadt das mittlerweile nur noch geldfressende „Schlachtschiff“ sukzessive ab, bis man ihm seine Seele nahm. Von der einstigen Pracht waren schließlich am Anfang der 1970er Jahre nur noch eine Teestube und eine kleine billige Kirmes übrig geblieben. Da war Patrick Hamilton schon lange tot. 1962 starb er vorzeitig an den Folgen seiner schweren Alkoholsucht in Sheringham in der Grafschaft Norfolk.
Für vergnügungssüchtige Londoner, mental sozusagen ein wenig die Nachfahren von George IV., ist Brighton heute eine ewige Partymeile, ein hedonistisches Vergnügen, das eher dem völligen Überfluss geschuldet ist. Immer ist alles ein wenig „too much“, bis der Wecker klingelt und das lange und schmutzige Wochenende vorbei ist, der Rausch aber noch nicht so ganz, den die „party people“ manchmal sogar am Strand ausschlafen. Das ist in Brighton jedoch eine eher ungemütliche Sache, weil er zumeist aus Kieselsteinen besteht. An den zerstörten West Pier, wo die Lichter schon lange erloschen sind, haben sie sich mittlerweile gewöhnt. Irgendwie mag man sich immer noch nicht ganz von ihm trennen.
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