23. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2020

Wissen, was bleiben soll

von Erhard Weinholz

Wichtig ist es, so sagen die Psychologen, sich zu erinnern, ebenso wichtig aber, wieder zu vergessen. Beides fällt uns mitunter schwer. Ähnliches lässt sich vom Sammeln sagen und von seinem Pendant, dem Abschied vom Gesammelten, das man nicht mit dem ganz gewöhnlichen Entrümpeln verwechseln darf. Denn von der einst mühsam aufgebauten Briefmarkensammlung trennt man sich doch nicht so leicht wie von ein paar kaum getragenen Schuhen. Viele überlassen ihr Sammelgut daher einfach seinem Schicksal, das zwar manchmal als interessierter Erbe einherkommt, ganz selten einmal als Museum, meist aber als Trödler oder gar als Müllhalde. Eben deshalb hatte ich mich schon vor längerem bemüht, einiges in sogenannte gute Hände abzugeben und mich überhaupt von minder Wichtigem zu trennen. Dann würden auch, so hoffte ich, die Bestände in meinen Mappen, Umschlägen, Ordnern und Kartons endlich wieder überschaubar werden.

Weniges nur habe ich in dieser Zeit aus Platzmangel aussondern müssen, so die recht sperrige Sammlung von Kistenbrettern mit Firmen-Aufdrucken italienischer oder französischer Obst- und Gemüsebauern. Hunderte von Zeitungsausschnitten zum Thema Berlin haben Abnehmer gefunden, alte Kleiderbügel mit Inschrift, meine DDR-Weihnachtskalender der sechziger bis achtziger Jahre, vielerlei sonstige Ostpapiermaterialien, nur die schönsten Stücke habe ich behalten, und schließlich, auf einen Schlag, mehr als vierhundert Bücher. Irgendwann versiegte der Impuls. Aber es war immer noch viel zu viel.

Nun, siebzig geworden, von allerlei Krankheit geplagt und jetzt auch von hochgefährlichen Viren bedroht, habe ich mich erneut dem Ausrangieren gewidmet und bedenkenlos schon manch dicken Stapel ins Altpapier gegeben. Doch ich merke: Je weniger noch bleibt, desto schwieriger wird es. Foto-Sammlung In froher Runde, Faschingsfeier 50er Jahre Ost, absolut typisch die albernen Kostüme, die große Flasche Zitronenlikör auf dem Tisch, die Bierpullen mit Bügelverschluss. Zeittypisch wie das Tapetenmuster, dieses grässliche Muster auf dem Brigadebild von 1981. Wegwerfen? Keinesfalls. Belanglose Gegenden, sechs Fotos für Freunde des Besonderen: bleiben auch. Ein Umschlag, Armenische Weinflaschenetiketts, frühe Sechziger, anscheinend Touristen-Mitbringsel, viel Gold- und Prägedruck, die Sorten von beträchtlicher Stärke: fünfzehn, siebzehn, achtzehn Prozent, das ist ja eher Portwein, sollte man wohl auch aufheben.

Wir sind, wie man sieht, bereits im Sammelgebiet Essen und Trinken angelangt. Edeka-Rezeptkalender von 1998 und 2003: können weg, obwohl sie in fünfzig Jahren vielleicht Raritäten sind. Aber die Rezepte hier sind mir zu aufwendig. Zu DDR-Zeiten habe ich wenig verdient, und die Gaststättenplätze waren knapp, trotzdem bin ich damals mindestens einmal pro Woche essen gegangen. Inzwischen koche ich faktisch jeden Tag; ich bin, so scheint es, im Laufe der Jahre immer geiziger geworden. Noch ein Umschlag: Kaufhof-Rezeptkalender 1938. Wenn man mal bedenkt, was der alles überstanden hat in diesen 82 Jahren … Damit hat er dauerndes Bleiberecht verdient.

Jetzt: Speisekarten. Die älteste von der Silvesterfeier 1957/58 im Hotel „Adria“ hier an der Friedrichstraße, die jüngste vom Februar 1989, vom Gästeheim des Ministerrates im Kurort Gohrisch. Seit langem schon will ich über diese Sammlung schreiben, weiß bloß nicht, wie ich die Sache angehe. Also aufbewahren. An zwei von den Restaurants, die hier vertreten sind, kann ich mich noch gut erinnern: das „Gastmahl des Meeres“, Liebknechtstraße, Ecke Spandauer, und den „Goldbroiler“. Den gab es an der Schönhauser, an der Friedrichstraße, am Alex … Brühe mit Herzen kostete 65 Pfennige, habe ich oft genommen. Oder Leber für Dreivierzig. Man konnte da sogar am Tresen sitzen, das fand ich toll: So sehr viel besser konnte es im Westen auch nicht sein.

Ansonsten habe ich damals meist ganz billige Stampen besucht, das „Johanneseck“, jetzt ist da der Friedrichstadtpalast, die boten Riesen-Eisbeine an, oder Unter den Linden das Casino der Staatsbibliothek. Die Kellnerin dort notierte sich nicht, wer was bestellt hatte, rief das Essen aus: „Bratkartoffeln Sülze! Spinat Spiegelei!“ Einmal hatte ich Schweinebauch genommen; kurz darauf setzten sich zwei junge Frauen an meinen Tisch. Bald kam der Ausruf „Schweinebauch!“ Die jungen Frauen: „Iii, Schweinebauch!“ Ich musste mich bekennen. Legendär war „Koch’s Speisenwirtschaft“ in der Brunnenstraße, die hatten noch Stammessen im Angebot. Früher, vor mehr als hundertfünfzig Jahren, aß auch mancher Offizier in Zivil in solchen Restaurationen. Als es Pflicht wurde, auch außer Dienst Uniform zu tragen, war es damit vorbei. Nachzulesen bei Hohenlohe-Ingelfingen, „Aus meinem Leben“. Ich wollte immer mal in der Brunnenstraße einkehren, verschob es mehrmals, und plötzlich machten sie zu. So ist es mir mit manchem gegangen.

Meist habe ich mich natürlich auch damals selbst verköstigt. Aber kaum nach den Rezepten im „Kochbuch E. Weinholz“, mit denen ich mich zum Genuss ermuntern wollte. Eines stammte aus der Budapester Rundschau vom Frühjahr ’89; vielleicht, so dachte ich zu jener Zeit, kriegen die Ungarn einen besseren Sozialismus zustande. Doch es wurde nichts daraus, und auch ihr gefülltes Kraut habe ich nie zubereitet, habe mich mit Spaghetti begnügt, die gekocht in die Pfanne kamen, dazu ein Mischgemüse, ein paar Tomaten, Bockwurst oder etwas Schinken oder Räucherfisch, dann mit Ei verquirlte Milch darüber gießen, stocken lassen, fertig war der Auflauf auf Berliner, westfälische oder ostfriesische Art – notiert gleich auf Seite eins. Hinten liegt dem Heft in der Handschrift meiner Freundin A. das Backrezept für Kaiser-Friedrich-Kuchen bei; so ist der unglückliche Herrscher dem Volke in Erinnerung geblieben. Mehrmals habe ich hier auch eine Woche lang notiert, was es bei mir zu Mittag gab. Am 6. Oktober 1989 standen Bouletten, Kartoffeln und Kohlrabi auf dem Plan, am nächsten Tag Schweinefleischknochen, gekocht zusammen mit Kartoffeln, Möhren und Blumenkohl. Die Bouletten hatte ich mir zu meinem vierzigsten Geburtstag gebraten, der Eintopf tags darauf war ebenfalls ein Festessen: Am 7. Oktober war die DDR vierzig geworden; da wollte ich bescheiden mitfeiern. Ein Dokument der politischen Gastronomie also, unbedingt bewahrenswert. Vielleicht sollte ich als nächstes meinen Kleiderschrank durchmustern. Auch da ist vieles überflüssig, doch kaum etwas derart mit Erinnerung verbunden.