Gefangenenbefreiung im Knast. Aber der Innensenator muss nicht eingreifen, wenn das Gefängnistheater in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel Beethovens Freiheitsoper „Fidelio“ spielt. Ist es doch immer wieder höchst erstaunlich und zutiefst berührend, was das künstlerische Leitungskollektiv vom – längst kein Geheimtipp mehr! – Gefängnistheater „aufBruch“ unter Regisseur Peter Atanassow da tut. Diesmal zusammen mit etwa zwei Dutzend Insassen, einem Team vom Education-Programm der Berliner Philharmoniker (Leitung: Simon Rössler), mit Alumni der Karajan-Akademie sowie Studierenden der Berliner Eisler-Musikhochschule und nicht zuletzt mit aufwändiger Unterstützung der JVA-Beamten.
Um es gleich zu sagen: Premiere war glücklicherweise kurz vor Corona. Das Berliner Regionalfernsehen hat sich bequemt – Beethoven-Jubel! –, das Ereignis aufzuzeichnen. Weshalb wir es uns jetzt, inmitten von Corona, daheim vorm Bildschirm anschauen können – dem Gedenkjahr sei Dank. Der Termin zur für Klassik-Programme üblichen Sendezeit um Mitternacht war erst kürzlich, doch ist die – wie bei allen Theater-Aufzeichnungen des rbb – lieblos unkommentierte Aufzeichnung großzügigerweise noch bis zum 17. Mai 2020 in der rbb-Mediathek abrufbar.
Im Knast-Theater gilt grundsätzlich: Alle Beteiligte an den stets enorm herausfordernden Projekten haben den Anspruch: Hier gilt’s der Kunst! Und zwar: zuerst der Kunst; wobei ihre pädagogischen und therapeutischen Aspekte nicht unterschätzt sein sollen, sonderlich für die „einsitzenden“ Akteure gegensätzlichster Art und Herkunft.
Die meisten nämlich hatten bislang mit Kunst, Klassik, gar mit Oper nichts am Hut. Doch der Aufruf zum Casting (wer will, der darf) fand viel Gehör, gewiss nicht allein aus plötzlich erwachtem Drang zur Kunst (der könnte sich entwickeln). Schließlich wurden für die Besetzung etwa zwei Dutzend Leute gebraucht, erwählt, gebucht und hielten tapfer durch im stressigen Lern- und Probenprozess bis hin zur umjubelten Premiere. Immerhin galt für alle: Wagemut, unerschütterlicher Enthusiasmus und Können – perfekt das Auftreten der Profis, mit rührender Hingabe, Stimmkraft, Spiellust die elf Wochen lang intensiv trainierte Laienbruderschaft (in Tegel sitzen allein Männer).
Zeitigt doch gerade diese Mischung von Professionals und – man darf sagen – blutigen Laien eine ganz eigene Dynamik, eine besonders packende Spannung der Aufführungen; beispielsweise vor zwei Jahren bei der Adaption von Richard Wagners Weihespiel „Parsifal“. Und auch jetzt wieder bei Ludwig van Beethovens idealistisch brausender Freiheitsoper. Dafür extrahierte der Dramaturg Hans-Dieter Schütt Kernstücke des Original-Librettos, textete griffig, aber einfühlsam neu und versetzte diese fürs Verständnis der Story unentbehrlichen Passagen kontrapunktisch mit Fremdtexten.
Erzählt wird also nicht allein die Geschichte einer spektakulären Befreiungsaktion, der Rettung vor einem politischen Kerkermord, vielmehr werden ergänzend zum Libretto gewisse Grundthemen der Oper wie Liebe, Treue, Verrat, Moral oder Gerechtigkeit prononciert „diskutiert“, teils auch mit Blick auf die spezielle Situation der Darsteller (Gewalt, Machtmissbrauch, Bestechung, Korruption, Gier, Schuld, Strafe, Sehnsüchte in Zwangslagen). Dieser „Extra-Reflexion“ durch geschickt eingeschaltete Zwischenspiele dienen starke Texte etwa von Peter Weiss und Jean Genet, Rudolf Leonhard („Die Geiseln“), Heiner Müller, Georg Büchner oder Tricia Hedin („Frau eines Gefangenen“).
Passend zu diesen wirkmächtigen „Fremdtext-Zwischenspielen“ (Soli, Chor, Sprech-Chor) suchte Philharmoniker Simon Rössler etwa ein Dutzend Kompositionen aus Beethovens Werk und setzte sie neben zentrale Versatzstücke der „Fidelio“-Originalpartitur; freilich kammermusikalisch umgeformt (Klavier, Klarinette, Streicher). Eine gewiss komplizierte, doch in keinem Moment fragwürdige, sondern durchweg stimmige, mit Wucht, Tief- und Feinsinn überzeugende Sache ausgerechnet in den „Tegeler Trakten“, im historischen Backsteinbau von 1898, der eindrucksvollen, effektvoll ausgeleuchteten Kulisse mit hervorragender Akustik.
Und all das ganz in Beethovens Geist. Bewundernswert. Eine mit Verlaub mustergültige Klassiker-Anverwandlung, so speziell gegenwartsnah wie allgemein überzeitlich. So erschütternd wie begeisternd. Was für ein Kunststück!
Schlagwörter: "Fidelio", Beethoven, Gefängnistheater "aufBruch", Peter Atanassow, Reinhard Wengierek