An einem fahlen Januarmorgen versammeln sich etliche Simpl-Redakteure im Simpl-Hinterzimmer der Türkenstraße in Schwabing. „Stellt Euch vor“, beginnt der Thoma Ludwig, „der Albert will, dass wir, ausgerechnet wir, eine ‚Frühlings-Erwachen‘-Sondernummer machen, nur weil der alte Wedekind, der Bazi, im Gefängnis sitzt!“
„Na, durch unsere Schreiberei wird er wohl nicht schneller rauskommen, eher im Gegenteil…“, wirft der Theodor Heine ein, der wegen „Majestätsbeleidigung“ schon selbst einmal Stadelheim von innen gesehen hatte.
„Wie stellt sich das unser goldiger Verleger vor? Etwa so rührselig, dass selbst den Wärtern vor der Wedekind-Zelle die Tränen kommen? Mit Deinem Gedicht, lieber Ludwig, werden wir das kaum schaffen: ‚Leise regt sich im Theater / dieser Welt ein Liebeston, / nächtens schreien viele Kater …‘“
„Das ist vom Schlemihl, nicht von mir“, protestiert Thoma.
„Und der Schlemihl bist Du, das weiß doch jeder“, wirft Gulbransson mit sonorer Stimme ein. „Doch im Ernst, Freunde, bei ‚Frühlings-Erwachen‘ fällt mir eher eine Karikatur ein als etwas Erhebendes, womöglich Vaterländisch-Edles, mit dem sich der Lange aus der Schlinge ziehen will. Mein Lieblingsgedicht, besonders poetisch, ist vom Kollegen Busch und hat nur vier Zeilen: ‚Die Mädchen werden williger, die Spargel werden billiger, / es stinkt aus den Aborten, kurz: Frühling allerorten!‘“
„Typisch, dass Dir das gefällt, Du Analerotiker“, kommentiert der Heine Theodor, „aber als Mitherausgeber muß ich diese Latrinenlyrik strikt ablehnen. Wir werden doch einen Simplicissimus zusammenbringen, der beides ist: lustig und lyrisch, Leute!“
„Witzig finde ich diesen Vers von unserm Freund Ringelnatz“, tönt der Thöny aus der Ecke. „Hört mal: ‚Und du bist schön, und du bist gut, / Und hast so hohe Beine. / Mir wird so loreley zumut, / Und ich bin doch nicht Heine!‘“
„Sehr witzig, aber wo bleibt der Frühling?“, wirft der Namensvetter ein, „Na, a bisserl Erwachen ist doch drin…“, verteidigt Thöny seinen Vorschlag, meint aber dann ganz konstruktiv: „Jetzt hört mal auf mit der Faselei. Wahrscheinlich können wir uns nicht weigern, wenn wir künftig Gesellschafter im Verlag werden wollen. Also an die Arbeit, Kameraden, Kollegen, Zeichner- und Schreiberlinge!“
„Auf geht’s!“, ermuntert Thoma die Runde und legt für einen Moment seine Pfeife beiseite, „wie wollen wir das Ding strukturieren? Schlage vor: Titel-Illu frei nach Goethe – Goethe zieht immer – Tage der Wonne, kommt ihr so bald? Schenkt mir die Sonne, Hügel und Wald…“
„Die Sonne schenkt garnix, sie brennt“, meckert Gulbransson.
„Das ist ohnehin kein Motiv für Dich, Olaf. Du bist zu bissig. Sowas muss der Theodor machen mit viel Gefühl und seinem Hintersinn!“
„Na gut, der Titel steht, könnte ganz romantisch werden, aber dann muss es doch etwas zynischer weitergehen“, mischt sich der Paul Bruno ein, „also zum Beispiel ‚Alle Vögel sind schon da‘ oder noch besser: ‚Veronika, der Lenz ist da, / die Mädchen singen trallala, / die ganze Welt ist wie verhext, / Veronika, der Spargel wächst!‘“
„Das kannste doch nicht bringen“, entsetzt sich Heine, „das singen doch die ‚Comedian Harmonists‘ im nächsten Jahrhundert. Aber im Prinzip hast Du natürlich recht, auf den ersten Innenseiten muß der Gulbransson ran!“
„Und so, dass es auch eine Antithese zum Schmusetitel wird? Vielleicht was aus den Kolonien. Einheimische, die in Kamerun die ersten Frühlingszwiebeln ausgraben oder sich für ein Frühlingsfest tätowieren?“
„Ja, klar, toll!“, Joachim, der immer für Abstrus-Exotisches ist, klatscht Olaf Beifall. „Weißt Du? So eine Art Onkel Wumba aus Kolumba … Oder denk an mein Suahelischnurrbarthaar vom Kattegatt!“
„Ringelnatz!“ Gulbransson wird ernst, „So einen Schmarrn kannst Du locker schreiben, aber ich doch nicht zeichnen. Aber vielleicht könnte ich ein phantastisches Osterhasenmeeting malen … norwegische, baltische, pommersche, polnische, bairische und für Dich speziell sächsische Osterhasen, die sich zum Rammeln versammeln.“
„Frei nach Ludwig Thoma …“, ruft Heine, „Mensch, Gully, das ist es! Jetzt haben wir schon das Entree, dann kommt erst mal Reklame und dann ne Kurzgeschichte, so lieblich und so lau. Die soll der Tiger schreiben oder besser noch unser lieber Graf von Keyserling. Franzi, besorg Bier, wir sind ein Stück weiter!“
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