23. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2020

Als Autor in Krisenzeiten

von Erhard Weinholz

Wäre ich so etwas wie ein Lyriker, dann würde ich mit ein paar Versen auf den traurigen Zustand jener Rubrik hinweisen, die bis vor kurzem noch Zuspruch gefunden hatte wie schon lange nicht mehr: „Lirum, larum, Löffelstiel, im Forum schweigt man jetzt recht viel, denn man musste sich bequemen, das liebste aller Forumthemen, worunter wahrlich viele leiden, in jedweder Gestalt zu meiden.“ Doch wir müssen das Forum, das uns manches Mal mit treuherzigen Trivialitäten oder giftiger Grandezza erheitert hat, nicht vermissen. Es gibt jetzt Besseres: Redaktionsmitglied Detlef D. Pries hat uns in der vorigen Nummer mit einem feuilletonistischen Editorial begrüßt, das wohl viele mit Vergnügen gelesen haben werden. Er erzählt uns von der Redaktionsarbeit in Zeiten der Pandemie – doch braucht das Gute solchen Anlass? Könnten Texte dieser Art, natürlich in zwangloser Folge, man ist ja nicht immer in passender Stimmung, nicht zur ständigen Einrichtung werden? Ich jedenfalls liebe Editorials, liebe überhaupt Rubriken wie „Rund um die Zapfsäule“ oder „Im Straßengraben belauscht“ und habe, als ich noch Redakteur der Zeitschrift Horch und Guck war, diese Einstimmungen aufs Kommende auch gern geschrieben: Es lässt sich in ihnen Persönliches mit Redaktionellem verbinden, man kann ein wenig lästern (natürlich nicht über die Beiträge, die man ankündigt), ein bisschen Klatsch und Tratsch verbreiten, man kann all das tun, was Leserinnen und Leser mögen.

Über die Probleme, mit denen man als Redakteur zu tun hat, will ich hier nichts weiter sagen. Inzwischen bin ich längst wieder, was ich zuvor schon war: Autor nämlich. Auch als solcher hat man mit mancherlei zu kämpfen, kann zum Beispiel in eine Schreibkrise geraten; ein redaktionelles Pendant dazu ist mir nicht bekannt. Doch sofern man nicht vom Schreiben leben muss, lässt sich das normalerweise alles ertragen. Was aber tut ein Autor in Wochen wie diesen, was ist wie immer und was anders? Auf alle Fälle, das ist das Wichtigste, schreibt der Autor fleißig weiter. Läuft aber nicht mehr so viel in der Stadt herum wie sonst – was nicht unbedingt an den Viren liegen muss, die jetzt unterwegs sind. Er könnte jetzt mehr lesen oder sich Filme anschauen. Aber dazu hat er keine Lust. Der Autor geht – wie üblich – einkaufen, geht sogar gern einkaufen, schaut nach Sonderangeboten, ärgert sich, wenn wieder einmal gerade das aus den Regalen verschwunden ist, das er besonders schätzt oder wenigstens braucht. Aber den Tag füllen kann er mit diesen zwei Beschäftigungen nicht.

Also räumt der Autor, wie unlängst beschrieben, endlich einmal gründlich auf. Er mustert seine Habe, stößt auf manches, das er lange nicht hervorgeholt hat. Zum Beispiel eine Sammlung von Handtüchern mit eingewebtem Namen der (einst) besitzenden Institution, leider sind es nur vier: GASAG, DEUTSCHE POST, Freie Universität Berlin und Bayerisches Staatsschauspiel – das lag, rätselhaft, höchst rätselhaft, hier im Bötzowviertel auf der Straße. Früher wurden solche Tücher gern geklaut. Der Hausherr zu einem Gast, der fragend auf den Handtuchhalter schaut: Äh … ja … meine Frau ist ne jeborne Reichsbahn.

Der Autor liest in alten und neueren Tagebüchern. Stellt fest, dass er, folgt man den Notizen, auch früher schon dauernd ausrangiert hat. Ja verdammt noch mal, wo kommt der ganze Kram denn her? Das meiste von all dem Aufgeschriebenen hat er längst wieder vergessen. Zum Beispiel die Idee zur Fabel vom bösen und vom guten Wolf. Der böse Wolf reißt … nicht etwa Zoten, sondern Schafe, frisst Hühner, Enten und Gänse, der gute Wolf frisst Obdachlose, Rentner und Asylbewerber. Der böse wird erschossen, der gute kriegt das Bundesverdienstkreuz am Bande. Keine schöne Geschichte, wahrscheinlich erlogen. Ein paar Wochen später – problematische Berufe: Hiobsbote. Traumbestatter. Der Hiobsbote ist Mitarbeiter der Deutschen Post und muss einiges aushalten können. Zum Traumbestatter geht man, wenn einem eines Tages klar wird, dass es mit den Träumen, den großen Hoffnungen nichts mehr wird. Aber das gestehen sich wohl nur wenige ein. Vergnüglich hingegen: Botschafter des schlechten Geschmacks – da kann man tun und lassen, was man lustig ist. Was haben wir hier noch? Sprichwörter: Die größten Bauern haben die dümmsten Kartoffeln. Oder (pseudochinesisch): Wo der Kaiser hinspuckt, blühen die Gärten. Notiert hat der Autor auch manches von Überschriften bewirkte Missverständnis: Ramelow schlägt eine Frau … na das ist ja ein Kunde, macht einen auf fortschrittlich, und dann … ach so: schlägt eine Frau als Ministerpräsidentin vor. Na okay. Oder: Als Ballack auf der Bank weinte … Warum bloß? Ist sein Konto leer? Gemeint war aber die Spielerbank, wie ich dann gesehen habe.

Der Autor lässt sich auch jetzt keine fertigen Gerichte ins Haus bringen. Nein, er stellt sich wie eh und je an den Herd und kocht. Und zwar, das ist neu, jeden Tag Suppe: Tomatensuppe, Linsensuppe, Bohnensuppe, Frikasseesuppe (aus Tiefkühlfrikassee, Reis, Gemüse und hinreichend Flüssigkeit). Die Suppe ist, nach dem Braten, das älteste Nahrungsmittel des Menschen. Immer würzt er scharf, mit Sambal Oelek oder Curry. Früher, zu Zeiten der Pest, wurde auch scharf gewürzt. Vielleicht, so sagt er sich, zeugt dieses Suppekochen von der Sehnsucht nach dem einfachen Leben, das er sich schon lange gewünscht hat. Aber sicher sein kann man sich bei sich selber ja nie.

Die Zeiten, da Autorinnen und Autoren als Verdiente Lehrer des Volkes galten, sind vorbei. Aber einen Rat geben darf man doch wohl auch heute. Und das tut der Autor gern. Lasst uns, so sagt er aus gegebenem Anlass, in diesen schwierigen Zeiten noch enger zusammenstehen!

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Anmerkung des Redakteurs:

Mein schon fast fertig geschriebenes „Editorial“ habe ich nach Eingang dieses Textes „aus Gründen“, wie es derzeit in vielen Verordnungen zu unser aller Schutze heißt, weggeworfen. Damit erfährt dieses Heft ein bislang ungewohntes Entrée – neben anderem Ungewohnten. Da wir alle seit Wochen tagtäglich medialen „Brennpunkten“ und „Sonderausgaben“ ausgesetzt sind, sollte diese Ausgabe coronafrei sein. Diese Absicht des Redakteurs war naiv. „Corona“ ist auch diesmal ein von unseren Autoren erzwungener Schwerpunkt, aber hoffentlich anders als bei anderen. Zum Diskurs über die Ungefährlichkeit von COVID-19 hat vor Kurzem Boris Johnson einen an Robert Kochs Tuberkulin-Selbstversuch erinnernden Beitrag geleistet. Der führte den britischen Premier direttamente auf die Intensivstation. Er hat’s mit Müh und Not, wie er selbst eingestand, überlebt. Anderen erging es anders. Unsere Autoren befassen sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Pandemie. Das ist Stoff genug. Ein allerdings fest eingeplanter Schwerpunkt sind die Beiträge zum 75. Jahrestag der Befreiung. Angesichts der geschichtlichen Amnesie, von der weite Teile des politischen und medialen Spektrums nicht nur in unserem Land befallen sind, verbietet sich hier jede Ironie. Mit welcher Chuzpe Politiker des Volkes, das vor 75 Jahren von sich selbst befreit werden musste, seinen Befreiern derzeit Zensuren erteilen, macht schon einigermaßen sprachlos.