Er ist kein Gruppenkünstler und auch von keiner Bewegung her interpretierbar. Ebenso wenig sind seine Bilder Protestbilder. Die Einsicht in die Vergeblichkeit allen Protestes, in die Unabwendbarkeit dessen, was dem Menschen bevorsteht, hat bei dem Berliner Maler und Zeichner Volker Stelzmann aber nicht zur Resignation geführt, sondern zur Flucht in das kunsthistorische Zitat, zur Einsicht in die ewige Wiederkehr des Unabänderlichen, in dem sich der Mensch schlechthin behaupten muss.
Stelzmann hat dafür seine eigene sinnbildliche Form gefunden, wiederum in Anknüpfung an eine spätmittelalterliche Bildschöpfung, das Triptychon oder das mehrteilige Bild: so etwa „Anschlag“, vierteilig, 1985; „Morgen“ – „Mittag“ – „Nacht“, 2012; „Unterführung“, Diptychon, 2014; „Druckwelle“, dreiteilig, 2016; „Das Treffen“, Triptychon, 2016; „Die Boten“, achtteilig, 2018. Auch „Geher“, 2019, „Was tun?“, 2019, „Spalt“, 2020, alle Mischtechnik, wären sowohl als Einzelbilder als auch im Zusammenhang zu betrachten. (Dabei spielt „Was tun?“ wohl eher auf Tschernyschewskis Roman als auf Lenins programmatische Schrift an). Hier sieht Stelzmann das unmittelbare Ausdrucksmittel für die Gewalt wie das Leid in der ihn umgebenden Gesellschaft. Er kleidet seine Aussage in eine Form, die in besonderer Weise das Allgemeingültige, das auf jeden Einzelfall Zutreffende und Ausdrückbare meint: biblische, kunsthistorische Bildstoffe, in denen menschliche Schicksale archetypisch formuliert sind, oder in Bildern der Schauspieler- und Zirkuswelt, wo durch die Doppelbödigkeit des Geschehens, durch die gespielte und im Spiel vertauschbare Wirklichkeit, jede Szene für andere Inhalte steht.
Seine direkten oder versteckten Selbstbildnisse – etwa „Selbst vor Blau“ und „Selbst mit Masken“ (beide 2019) – sind ihm Protokolle einer Suche nach ungeschminkter Wahrheit geworden. Der Künstler bezieht sich in das Bildgeschehen ein, identifiziert sich damit als Betroffener, als Opfer wie als Täter, er sitzt nicht als unbeteiligter Beobachter außerhalb des Geschehens oder verweist kommentierend darauf. Der Künstler müsse bezeugen, er müsse die „schwierige Übereinstimmung“ mit dem Betrachter herstellen.
Im 80. Geburtsjahr des Künstlers zeigt die Galerie Poll Figurenbilder aus den letzten Jahren, Passionsbilder, Straßenszenen, aber auch ausgewählte Radierungen aus den Jahren 1972 bis 2004, ikonische Zeichen für Fremdbestimmung und Entpersönlichung des Menschen, Allegorien, Parabeln, Hyperbeln und Grotesken. Die Macht und Verführung der Bilder wird konterkariert durch die ungeheure Distanz zu den Gegenständen, die Vieldeutigkeit des Geschehens. Den sieben Todsünden Zorn, Hoffart, Wollust, Missmut, Völlerei, Neid und Geiz, die im Verhalten von Zeitgenossen vorgezeigt werden, hat Stelzmann die Intoleranz, die Beschränktheit, Gleichgültigkeit, Trägheit und Sorglosigkeit hinzugefügt, die Neigung, die Dinge so zu belassen, wie sie nun einmal sind.
Vielfach verflochten, versatzstückhaft konstruiert das Geschehen auf seinen Tafeln. Figuren, die im Dunkeln tappen – Aschermittwoch am Ende des Karnevals, ein Porträt der Großstadtgesellschaft –, in gewöhnlicher Straßenkleidung, als Hooligans ausgewiesen, in großer Abendrobe, in Kutten gehüllt, in karnevalesker Verkleidung oder gänzlich unbekleidet. Sie haben das Handy in der Hand, sie musizieren oder bedienen sich religiöser mythologischer Attribute. Haben Sie Pilgerstöcke in der Hand oder sind das Schlagstöcke? Die Figuren sind aneinandergereiht, sie behaupten ungerührt ihren Platz über oder neben dem andern, sie pressen sich aneinander, sie stützen und bedrängen sich, sie behaupten ihr Ego und leisten dem anderen Hilfe, sie scheinen zu fliegen, sie taumeln, stürzen ab, sie liegen zu Boden.
Wie eingeschreint in einen Raumkasten sind die Figuren. Übersteigerte Ausdrucksgebärden und Körperhaltungen wirken beunruhigend und lassen an die drastische Realistik altdeutscher Martyriendarstellungen denken, an Bilder von Grünwald, Baldung Grien oder Ratgeb, aber auch an Formprinzipien italienischer Manieristen wie Pontormo. Stelzmann lässt die Gewalttätigkeit in seinen Bildern zu sich langsam bewegenden oder vollkommen statischen Formen gerinnen, er verleiht ihnen steife verlängerte Formen, die aus der Bildebene herausspringen. Kreuz- und Querverbindungen zwischen Vorder- und Hintergrund, oben und unten geben seinen Szenen ein klaustrophobisch zusammengepresstes Aussehen. Aus der räumlichen Verdichtung gotischer Altarbilder – mitsamt ihrem tölpelhaften Sadismus – entsteht so der Schauplatz moderner Kreuzigungen und Kalvarien.
Wiederholt hat der Künstler seinen Vorfahren in der Kunst in Hommage-Bildern gehuldigt, er hat sie in sein Atelier geholt, auf dass sie ihm beim Malen über die Schulter zuschauen, er saß mit ihnen in einer Runde am Tisch, war Teilhaber einer „Konspiration“ (1990/91). Zu Pontormo, Michelangelo, Velásquez, El Greco, Grünewald und Otto Dix – auch Pop Art spielt bei Stelzmann eine Rolle – ist Chirico dazugekommen, dessen „Manichini“ (Mannequins) Symbole des fragmentarischen modernen Ichbewusstseins sind.
Stelzmanns Figuren sind in ein klares, hartes, niemals zärtliches Licht gesetzt, das nie die Illusion einer freundlichen Welt erzeugt. Der Raum scheint durch die theaterhafte Perspektive die lange Reihe der Figuren entlang vor dem Betrachter zurückzuweichen. Dieses Verlängern, das die entfernten Dinge noch viel entfernter erscheinen lässt, steht im Widerspruch zu einer kubistischen Flächigkeit und Komprimierung. Die Bilder strömen keine Melancholie, sondern Härte aus, ein Gefühl von Machtlosigkeit und einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit.
Zwar ist die Stadtlandschaft voller Figuren – aber eigentlich doch leer. Denn die Bewohner dieser Landschaft vermögen sich dem Betrachter, in dessen Auge die Perspektive zusammenläuft, nicht mitzuteilen. Sie gleichen Statuen, Schneiderpuppen, eben „Manichini“, sind aus Momentos zusammengebaut. Stelzmann gelingt es, eine Menge an psychischer Bedrohung und Gewalttätigkeit wie Ohnmacht und Leidensfähigkeit auf kleinstem Raum – trotz der Großformatigkeit der Bilder – zusammen zu pressen – und die einmal erreichte Intensität in immer wieder anderen Metaphern und Bildern abzuwandeln. Mit einem terroristischen Akt versucht er, gegen die Welt der geordneten Verhältnisse anzukämpfen.
Seine Szenen sind vielfältig interpretierbar, bewusst geht der Künstler der Festlegung eines eindeutigen Bildsinns aus dem Weg. Der Betrachter selbst soll zu einer immer wieder aktuellen Findung des Bildsinns veranlasst werden.
Die zwingende, traumatische Eigenschaft dieser Bilder: Sie stehen plötzlich vor uns, unvermittelt, scheinbar ohne Zweideutigkeit, ganz so, als wären sie „nach dem Leben gemalt“, und lassen uns nicht los – sie werden immer vieldeutiger und geheimnisvoller, visionärer, von magischer Realität erfüllt.
Das Rätsel eines Orakels.
Das Ende eines Traums, an dem Phantasie wieder Wirklichkeit wird.
Volker Stelzmann – Was tun? Malerei und Radierungen, Galerie Poll, Gipsstr. 3, 10119 Berlin,
Dienstag bis Samstag 12–18 Uhr, bis 18. April.
Schlagwörter: Klaus Hammer, Volker Stelzmann