23. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2020

Videobotschaft versus Kommunion

von Hermann-Peter Eberlein

Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens zur Eindämmung der Corona-Epidemie haben gravierende Folgen auch für das Leben der Kirchen. Am Umgang mit ihnen offenbart sich die Schwäche des christlichen Glaubens in unserem Land.

Kirchen bleiben geschlossen, Gottesdienste finden nicht mehr statt. Damit entfallen nicht nur Begegnungsmöglichkeiten für Menschen, die in den Kirchengemeinden ihr soziales Zuhause gefunden haben, sondern betroffen ist das Zentrum kirchlichen Lebens. Denn der gemeinsam vollzogene Kult, gemeinsam vollzogene Riten als Reflex auf einen sinnstiftenden Mythos bilden – neben dem individuellen Gebet – den Kern jeder Religion, so auch der christlichen. In ihr speziell geht es um die geistige und leibliche Vereinigung mit der Gottheit, speziell in der Feier der Eucharistie (so die Terminologie in der katholischen Kirche) beziehungsweise des Abendmahls (so der geläufigere Ausdruck im Protestantismus). Gerade dieser zentrale Kultakt, der körperliche Nähe und oft sogar Berührung erfordert – etwa bei der sogenannten Mundkommunion, die es in beiden Konfessionen gibt und bei der der Priester den Gläubigen die Oblate auf die Zunge legt – ist aber derzeit ausgesetzt; genauso ist es bei der Taufe und diversen Salbungs- und Segensriten. Stattdessen lassen sich die Kirchengemeinden etwas einfallen, um die Gemeinschaft unter ihren Mitgliedern zu stärken: Videobotschaften der Pfarrer aus ihren Kirchen, gemeinsames Singen vom Balkon aus in dicht bebauten Straßenzügen, das Anzünden von Kerzen in den Fenstern zu einer festen Uhrzeit, Telefonketten unter den Alten, die zu Hause bleiben.

Was erreicht man mit solchen zum Teil recht phantasievollen Aktionen? Ein Gefühl der Gemeinschaft und Solidarität, eine Stärkung gegen Vereinsamung und Depression – das ist nicht schlecht und es mag sogar gelingen, per Videopredigt Menschen dazu zu bringen, neu über sich und ihr Leben nachzusinnen. Das Problem liegt in der unausgesprochenen Übernahme des höchsten Wertes, der alle öffentlichen Maßnahmen derzeit bestimmt: der Gesundheit. „Hauptsache gesund“ – diesem Maßstab, der unsere Gesellschaft flächendeckend prägt, haben sich auch die großen Kirchen mit ihren leitenden Funktionären unbefragt sofort untergeordnet.

Blickt man in die Kirchengeschichte, so war Gesundheit lange Zeit mitnichten ein christlicher Wert. Die ersten Christen rechneten mit dem baldigen Weltuntergang und freuten sich auf ihn als den Beginn eines neuen Gottesreiches. In Zeiten der Verfolgung im Römischen Reich drängten sich Christen durch Selbstanzeige zum Martyrium – so dass man etwa in Smyrna zu Mäßigung mahnen musste, damit die Gemeinden nicht ausstarben. Die „imitatio Christi“ als Ziel eines christlichen Lebens, die Nachfolge Christi und Gleichwerdung mit ihm, bedeutet immer auch die Sehnsucht nach Leiden und Tod. Noch in Zeiten der Verfolgung der Protestanten im niederländischen Freiheitskampf des 16. Jahrhunderts waren Flüchtlinge, die am Niederrhein eigene Gemeinden begründeten, stolz darauf, ihr Hab und Gut und ihre Heimat verloren zu haben, weil sie damit Christus nahe sein konnten – wenn sie schon nicht des Märtyrertodes gewürdigt worden seien. Und im protestantischen Pietismus des 18. und in der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts ging es immer auch um Bewährung „im Kampfe mit der bösen Welt“, um Entsagung im irdischen und Konzentration auf das ewige Leben.

Von diesem Geist ist in den großen Kirchen derzeit beinahe nichts zu spüren. Der Kommentar eines konservativen lutherischen Pfarrers aus dem Rheinland steht vereinzelt: „Wir leben inzwischen in einer Welt des Gesundheitswahns, der Reinheit und der Risikovermeidung, die erschreckend ist. Im Angesicht der Seuche darf man das Hl. Abendmahl nicht ausfallen lassen, sondern muss umso mehr am ‚Heilmittel zur Unsterblichkeit‘ teilnehmen.“ So fremd solche Sätze in ihrer dogmatischen Strenge sind, so menschenverachtend sie sogar wirken mögen, eines kann man ihnen nicht absprechen: ein Gespür für die weltverneinenden Anteile des Christentums, die jedenfalls im heutigen Protestantismus fast völlig verloren gegangen zu sein scheinen. Dabei ist dieser Geist in den Liedern etwa des Evangelischen Gesangbuchs noch zu fassen: „Ich wollt, daß ich daheime wär und aller Welte Trost enbehr“; „Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt“; „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: laß fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben“. Wissen die, die sonntags in ihrer Kirche solche Strophen singen (die letzte Zeile stammt aus Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“, der immerhin so etwas wie eine Hymne des Protestantismus darstellt, selbst in Opern verwendet) – wissen sie, die gesundheitsbewussten Sängerinnen und Sänger, die Großeltern, die an ihren Enkeln hängen, die Familienväter, die Ausbildungsversicherungen für ihre Kinder bedienen, – wissen sie eigentlich, was sie da bekennen?

Der konservative Lutheraner aus dem Rheinland hat den Finger in eine Wunde gelegt, an der sich die Schwäche des christlichen Glaubens zeigt, wie er derzeit in den beiden großen Kirchen mehrheitlich verstanden wird. Einst war der Glaube so stark, dass man damit oder gar dafür sterben – und somit auch ohne Todesangst leben konnte; heute ist er so schwach, dass man trotz seiner nicht so bald sterben möchte – dann aber braucht man damit auch nicht zu leben: dazu reicht eine gute Portion Stoizismus. Einst ging es darum, sterben zu lernen; heute geht es darum, behaglich überleben zu können. Die Ausschließlichkeit des Religiösen, wie sie doch gerade den Kirchen gut anstünde, ist ihnen kein Maßstab mehr. Stattdessen bieten sie Wellness-Religion (gepaart mit moralischen Appellen zur Erhaltung einer behaglichen Welt) für eine Wellness-Gesellschaft.

Friedrich Nietzsche hat in seiner Auseinandersetzung mit David Friedrich Strauß die seichte, philisterhafte und die das Leben ganz und gar nicht tragende Substanzlosigkeit von dessen neuer Bildungsreligion verspottet – den alten Christen sei ihr Glaube immerhin in Leben, Leiden und Tod Fundament, Stütze und Trost gewesen. Später hat Nietzsche den Tod Gottes konstatiert, was so viel sagen will wie: Gott war, aber ist nicht mehr Angelpunkt unseres Selbstverständnisses. Diese Entwicklung ist in den säkularisierten Gesellschaften Westeuropas unumkehrbar – da können konservative Lutheraner, Katholiken oder Freikirchler noch so laut lamentieren. Sie mögen ihre religiösen Ghettos pflegen – für die große Mehrheit gilt: Die Gesundheit geht vor, gegen beinahe alle Unbill sind wir versichert und der Staat möge die wirtschaftlichen Folgen der Seuche abfedern. Nietzsche hat recht: Gott ist tot. Auch in der Kirche.