23. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2020

Der „Rinnsteinkünstler“

von Bettina Müller

Sommerfest in einer Berliner Laubenkolonie. Eine Schar Kinder zieht mit Laternen durch eine kleine Siedlung am Stadtrand, während in der Ferne düstere Mietskasernen vor einer freudlosen Landschaft stumm vor sich hin brüten. Hans Baluscheks 1909 entstandenes Gemälde „Sommerfest in der Laubenkolonie“ ist synonym für viele seiner Werke. Oft ahnt man, da ist nicht viel mehr in diesem Dasein, und wer einmal in diesen Umständen gefangen ist, entkommt ihnen nur in Augenblicken des vergänglichen Vergnügens. Doch die vorbeiziehenden Mädchen wirken trotz alledem heiter. Sie sind in strahlendem Weiß gekleidet und leuchten fast übernatürlich, trotzen dem Elend. Unbewusst schält sich so auch ein anderer, erhabenerer Gemütszustand heraus: Hoffnung, die den eigentlich geschlossenen Kreis der Elends-Protagonisten durchbricht. Eine Lücke in den schwarzen Mietshäusern, die am Horizont einen Ausgang bietet, ein Sonnenuntergang, der in den schönsten Farben leuchtet und so den neuen Tag herbeisehnen lässt, das ist schon latent romantisch und somit ein krasser Gegensatz zum Sujet. Ein faszinierendes Spiel mit Licht und Schatten, dort, wo Freud und Leid sehr dicht nebeneinanderliegen, wo die kleinen Datschen fast sarkastisch anmutende Namen wie „Villa Niedlich“ tragen, aber mit dem hebräischen Wort „Salem“ zugleich deutlich wird, dass die Religion in dieser Welt keine Rolle spielt. Trotzdem haftet dieser Szene fast auch etwas Religiöses an, man denkt an Kommunionskinder.

Doch Baluschek war kein Maler, der irgendeine Religion in den Vordergrund stellen wollte. Er hatte sich seine ganz eigene Glaubenswelt geschaffen hatte: Das Berlin der endlosen Straßen, der Mietshäuser im Osten der Stadt, in denen zahllose Menschen oft chancenlos vor sich hinvegetierten, denn die wenigsten kaiserlichen Untertanen kamen mit einem goldenen Löffel im Händchen zur Welt. Die aber in ihrer Welt auch fest zusammen hielten, das machte das Elend ein wenig erträglicher.

Dem 1870 in Breslau als Sohn eines Eisenbahnbeamten geborenen Hans Baluschek wurde es in die Wiege gelegt, sich anderen Menschen ohne jeglichen Dünkel zu nähern, weil in seinem Elternhaus nämlich ein „demokratischer Wind“ wehte, wie der Biograph Friedrich Wendel 1924 schrieb. Das führte später dazu, dass Baluschek in die SPD eintrat.

1876 zog die Familie nach Berlin. Der Vater nahm Hans auf seinen Dienstgängen mit, der Junge spielte mit Kindern aus Arbeitervierteln. Das prägte. Anstatt sich der Malermuse zum Beispiel in Form von harmlosen Blumen-Stillleben zu verschreiben, entschied sich Baluschek nach seinem Studium an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste, die von dem konservativen Anton von Werner geleitet wurde, daher früh für etwas Neuartiges: Sozialkritik. Schlüsselerlebnis war dabei 1882 eine Ausstellung des russischen Künstlers Wereschtschagin mit extrem realistischen Kriegsdarstellungen. Diese Drastik galt es fortzuführen, und zwar in Berlin.

Aus diesem unbeirrbaren Anspruch heraus entstanden seine Bilder, deren wenig heitere Titel, zum Beispiel „Kinderbegräbnis“ oder „Kriegswinter“, stets von vornherein aufzeigten, was der Betrachter zu erwarten hatte. So wurden seine mitunter derben Bilder von erfrorenen Vagabunden und Bettelweiber bevölkert, unter denen der Tod umging. Baluscheks Palette umfasste darüber hinaus Großstadtprostitution, Kokainisten, Schwindsüchtige und reichte über „Rummelnutten“ bis hin zu einem Kinderschänder („Onkelchen“) und anderen mitunter skandalträchtigen Motiven.

Auch der „Tingeltangel“ bot ein Potpourri an Großstadtschicksalen und -charakteren. Baluscheks Tingeltangel-Dame ist gefangen in ihrem Dasein, und über allem wacht ein Bild des Kaisers, als sie gerade als verwegene Señorita auf dem Tisch tanzt – eine kaiserzeitliche Vorform der von Otto Dix später in der Weimarer Zeit gemalten Anita Berber. Lasziv mit üppigem Dekolleté ganz in plüschigem knalligem Rot gekleidet, wirft sie den Biedermännern mit den Bierhumpen im Publikum aufreizende Blicke zu.

Das Publikum zu Baluscheks Zeiten war ratlos, verstand nicht, warum jemand „so etwas“ malte. Baluschek forderte den Betrachter geradezu auf, die Augen nicht vor dieser bis dato stets ignorierten Welt zu verschließen, das Leben „der anderen“ nicht ausblenden, denn es war nun einmal Teil der Stadt.

Die Reaktionen waren zunächst verheerend. Ein Schrei der Empörung wühlte die Kunstwelt und das Publikum auf, nachdem Baluschek in den Jahren 1895, 1896 und 1897 zusammen mit seinem besten Freund Martin Brandenburg in der Galerie Gurlitt hatte ausstellen dürfen. Sogar der Kaiser höchstpersönlich ließ sich zu der Schmähung „Rinnsteinkunst“ hinreißen. Doch dass Baluschek trotz der zunächst verpönten Sujets ein großes Talent als Maler besaß, war unübersehbar. „Zum Glück“ malte er auch noch unverfängliche „Eisenbahnbilder“, und wurde so zunächst zu einer Art geduldeter Außenseiter, ein Geistesverwandter von bildenden Künstlern wie Heinrich Zille und Käthe Kollwitz sowie von Schriftstellern wie Hans Oswald mit seinen „Großstadtdokumenten“ und Leo Heller mit seinen Schilderungen der Welt der Armut und Kriminalität. Auch sie wurden mit Schmähkritik konfrontiert, und es ist daher wohl kein Zufall, dass Baluschek und Hans Oswald befreundet waren.

Durch eine Spaltung der Berliner Kunstszene – Auslöser war eine durch Anton von Werner abgesetzte Ausstellung mit Bildern von Eduard Munch – formierte sich 1898 als Gegenentwurf zum konventionellen Kunstbetrieb die „Berliner Sezession“, zu deren Gründungsmitgliedern Baluschek gehörte. Diese unkonventionelle Gruppierung akzeptierte ihn als Künstler, der sich so von dem Stigma des bloßen „Elendsmalers“ befreien konnte und endlich Anerkennung fand.

Nach dem Ersten Weltkrieg war Baluschek verstärkt als Illustrator tätig, doch auch als Dozent an der Berliner Volkshochschule. Durch die Wendel-Monographie über den Künstler verfestigte sich sein Ruf als „marxistischer“ Maler des „Lumpenproletariats“, was ihm nach 1933 zum Verhängnis wurde. Die Nazis schmähten seine Kunst gleich der vieler anderer als „entartet“.

Am 28. September 1935 starb Hans Baluschek in einem Berliner Krankenhaus. Er ruht heute in einem Ehrengrab der Stadt. „Unter der Pflicht gegenüber der proletarischen Klasse hat er sein Leben gestellt“ hieß es sehr treffend in einem Nachruf.

„Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze“: Hans Baluschek zum 150. Geburtstag. Vom 26. März bis 27. September 2020 im Bröhan-Museum, Berlin.