Eigentlich wollte ich nach Malta reisen. Ein maltesisches 20-Cent-Stück hatte mich dazu angeregt, das zwischen alten Lesezeichen, bunten Glasscherben und dergleichen in meinem Bücherschrank liegt und hübsch anzuschauen ist – es zeigt das Staatswappen: Mauerkrone und geteiltes Schild. Da auf Malta einst Ritter herrschten, findet man Wappen hier allerorts. Neulich fiel mir ein: War Lenin nicht von Adel? Im Ausland nannte er sich ja gelegentlich von oder de Uljanoff. Trug er vielleicht auch ein Wappen? Und wenn ja, wie sah es aus, wie ist es zu deuten? Für echte Leninisten sicherlich spannende Fragen.
Ganz unbekannt ist mir die Insel nicht, vor langen Jahren war ich zusammen mit meiner Freundin B. schon einmal dort. Wir fuhren viel im Lande herum, immer mit dem Bus, denn Bahnen gibt es auf Malta nicht. Das Busfahren brachte Erinnerungen an die DDR: Es war sehr billig, aber die meisten Busse waren schon etwas bejahrt und ächzten, wenn man einstieg. Regelrechte Klapperkisten waren darunter, bei denen zum Beispiel manchem Sitz die Rückenlehne fehlte. Aber auch das hatte seine Vorteile: Ich bekam so mehr Kniefreiheit. Oft fuhren sie mit Verspätung. Wir warteten geduldig und sagten uns „We hold ssruh“, auf gut Deutsch: Wir halten durch. In unserer Ferienanlage – dies als Letztes zu jenem Urlaub – gab es zum Frühstück nur zwei Käsesorten: den einen Tag diese, den anderen jene. Auch das hatte etwas von DDR an sich. Immerhin waren sie wohlschmeckend, was man vom DDR-Kaufhallenschnittkäse nur gelegentlich sagen konnte.
Doch diesmal wurde es nichts mit Malta, aus gesundheitlichen Gründen. Da es ja ohnehin heißt: „Ostler, nutzt die See des Ostens!“, suchte ich mir hier nun ein Ziel: Ahrenshoop, das Seebad der Werktätigen. Oder der Intelligenz? Oder beider? Das wäre wohl am besten. Kulturell kann kein Ostseebad mit Ahrenshoop mithalten: Es gibt dort jeden Sommer die Kunstauktion, es gibt den Kunstkaten, die Kunsthalle und natürlich die hochberühmte Bunte Stube, in der herumzustöbern immer ein Vergnügen ist. Doch mit ihren Ausstellungen, die einst einen Ruf hatten, ist nicht mehr viel los, lieblos gehängt verteilen sich die Bilder über die Wände – der jetzige Inhaber scheint dafür keinen Nerv zu haben.
Ahrenshoop also. Und wenn schon, dann „Haus Lisa“. Die Räume in diesem Hause sind sparsam möbliert, und maritimer Schnickschnack fehlt – bis auf die unvermeidlichen Fensterbrettmöwen. Ich frage mich aber: War ich schon immer so weltfremd oder bin ich es durch die Liebe zu abseitigen Dingen wie Rotplombe-Rezeptheften, stalinistischen Kinderbüchern und alten Tüten allmählich erst geworden? Jedenfalls war zu meiner Überraschung die einzige Wohnung in diesem Hause, die von ihrer Größe her für mich in Frage kam, auch im Januar und Februar bis auf drei Tage ausgebucht.
Nichts mit Malta also, nichts mit Ahrenshoop, da blieb nur Binz. Binz hat eine lange Strandpromenade mit schönen alten Villen, doch zwei Wochen Promenade in der Saison, für das Geld könnte man fast schon zwei Wochen Nepal inklusive Flug buchen. Man kann sich in Binz besser versorgen als in Ahrenshoop; leider bietet eine Kunsthandlung Bilder von Udo Lindenberg an, und eines davon gelangte in die Promenadenvilla, in die sich meine Freundin B. und ich zweimal eingemietet hatten. Ich habe es immer gleich mit einem großen Handtuch verhängt. Wenigstens gibt es in Binz keine singenden Wirte, Matrosen oder Parteisekretäre.
Und nun bin ich auch schon dort, sitze in der Pension „Steinbutt“ am Fenster, schaue hin und wieder hinaus aufs Meer, in den Regen, der seit den frühen Morgenstunden aus rasch dahintreibenden Wolken … Das klingt nicht schlecht, ist aber fast alles erlogen: Es regnet nicht die Bohne, und vor mir habe ich die langweilige Seitenfront der Villa „Strandrose“. Meeresblick hat man hier nur vom Fenster am Fahrstuhl. Am Tisch sitze ich aber tatsächlich oft, sitze und schreibe, meist an einem Text zur Geschichte meiner Bürgerbewegung vom Herbst ’89, der Initiative für eine vereinigte Linke. Vor allem parteilose Sozialisten hatten sich in dieser VL zusammengefunden. Nur in der DDR hat es so etwas gegeben; warum gerade hier, ist mir ein Rätsel geblieben. Die Oppositionellen aus Polen, Ungarn und so weiter schauten von der hohen Warte ihres Europäertums auf uns herab und ahnten nichts Böses.
Auch in mein Tagebuch trage ich manches ein. Im Zug nach Binz erzählte eine ältere Dame einer anderen: Wenn man früher drüben etwas eingekauft hatte, dann sagte man, dass man bei der HO Gesundbrunnen war. Das musste ich unbedingt notieren, seit Jahren schon sammle ich nämlich Berliner Redensarten. Vermerkt habe ich auch, dass mir jetzt erst bewusst geworden ist, woher das Wort orientieren stammt: Es hat etwas mit dem Orient zu tun.
Als Drittes habe ich allerlei Binz-Karten mit selbst verfassten Versen geschrieben: Gern würde ich, so beginnt einer davon, dies Seebad ausgiebig bedichten, doch ich finde auf Binz keinen Reim. Bald muss ich auch hier meine Anker lichten, und ich frage mich: Wo bin ich wirklich daheim? Ein passender Kommentar zu diesen Zeilen ist mir nicht eingefallen, aber vielleicht sprechen sie auch für sich.
Ansonsten war ich des Öfteren an der See, wo Menschen im frisch angespülten Tang nach Bernstein stocherten, in Stralsund und im nahegelegenen Lietzow. In Lietzow wollte ich die Regale des Bücherbahnhofs durchmustern, doch es gibt diese erfreuliche Einrichtung nicht mehr. Ich fuhr umgehend nach Binz zurück, ging in die Bahnhofswirtschaft und bestellte – das Gericht stand auf der Karte – Sülze mit Bratkartoffeln. Doch auch Sülze gab es nicht. Und auf einmal – hatte ich nicht noch lange Strandgänge unternehmen, das neue Museum am Kleinbahnhof besichtigen und ins Selliner Fischrestaurant ausgiebig essen gehen wollen? –, auf einmal waren die acht Tage Binz, die doch gerade erst begonnen hatten, schon wieder herum.
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