Lenins Imperialismus-Studie von 1916 gilt heute vielen als „toter Hund“ der politischen Ökonomie. Er hatte das Finanzkapital als „Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der Banken mit der Industrie“ charakterisiert und eine Finanzoligarchie – ein Begriff, den der von Lenin zitierte Franzose Eugene Letailleur (Lysis) zuerst 1908 verwendet hatte – als dessen sozialen Repräsentanten ausgemacht. Rudolf Hilferding verwendete in seinem Werk über „Das Finanzkapital“ 1910 den Begriff „Kapitaloligarchie“. Karl Marx schrieb 1877 in einem Brief an Friedrich Engels von einer „associated capital Oligarchie“ in den USA. In seinen früheren Arbeiten tauchen die Begriffe „Finanzaristokratie“, „Geldaristokratie“ und „Bankokratie“ auf.
Alles „tote Hunde“? Jens Bergers neues Buch „Wer schützt die Welt vor den Finanzkonzernen?“ liest sich wie eine Aktualisierung der Leninschen These. Auf die Frage, wem heute die Welt gehöre, antwortet er, sie gehöre der „Oligarchie der Finanzkonzerne“, deren Machtkonzentration „im weltgeschichtlichen Kontext einmalig“ sei. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt er in einer brillant geschriebenen Darstellung der globalen Finanzmacht, die auch – nicht nur! – von einer Handvoll US-amerikanischer Investmentkonzerne ausgeht. Im Mittelpunkt stehen BlackRock, Vanguard und State Street, die drei größten Finanzkonzerne der Welt. Sie führen mit 6,8 beziehungsweise 5,6 und 2,5 Billionen US-Dollar an verwaltetem Vermögen die Hitliste der weltweit größten Finanzkonzerne an. Die 40 größten von ihnen – zwei Drittel davon sind in den USA beheimatet – disponieren zusammen über ein Vermögen in Höhe von 58 Billionen US-Dollar. Zum Vergleich: Das gesamte globale Bruttogeldvermögen betrug laut Alliance Global Wealth Report zuletzt schätzungsweise 186 Billionen Dollar; die deutschen Privathaushalte verfügen brutto über 6,8 Billionen Dollar. Das heißt, ein einziger Konzern, BlackRock, bringt genauso viel auf die Waagschale der Vermögen wie alle deutschen Privathaushalte zusammen, wobei in dieser Statistik auch private Organisationen ohne Erwerbscharakter wie zum Beispiel die Kirchen als private Haushalte zählen.
Mit dieser gewaltigen Konzentration an Geldkapital ist eine unfassbare wirtschaftliche Macht verbunden. Und diese Macht liegt nicht etwa bei den eigentlichen Eigentümern dieser Vermögen. Auch wenn die oberen 10 Prozent dieser Welt einen immer größeren Teil dieses Finanzvermögens besitzen, stecken in diesem Topf auch die vielen Billionen an Sparbeträgen, Versicherungen und Alterssicherungen des „kleinen Mannes“. Sie alle haben die reale Verfügung über dieses Geld in die Hände professioneller Vermögensverwalter gelegt. Diese können, auch wenn sie die Renditeansprüche bedienen müssen, ziemlich weitgehend nach eigenem Gutdünken über dessen Verwendung und Verwertung entscheiden. Und wenn heute mehr als 80 Prozent der Aktienbesitzes in den Händen der Finanzbranche liegt, ist, so Berger, „die Machtfrage offensichtlich ein für alle Mal geklärt“. BlackRock ist weltweit an 15.000 Unternehmen, darunter an 2712 Konzernen mit mindestens 5 Prozent beteiligt. Vier große US-amerikanische Finanzkonzerne halten fast 20 Prozent der Anteile der deutschen DAX-Konzerne, darunter allein BlackRock 10 Prozent. Wenn dessen Chef Larry Fink Wünsche äußert, kommen die Vorstände der betroffenen Unternehmen kaum um deren Erfüllung herum; die Meinung der vielen Tausend anderen Anteilseigner ist – wenn überhaupt – nur von sekundärer Bedeutung und viele Entscheidungen werden schon im Vorfeld der Aktionärsversammlungen abgeklärt. Der Tonfall von Fink gegenüber den Managern ist bezeichnend. In seinem jüngsten Jahres-Brief an die Chief Executive Officer (CEO) der Firmen, an denen BlackRock beteiligt ist (das Schreiben kannte Berger noch nicht), schreibt er: „Wenn wir der Meinung sind, dass Unternehmen und ihre Führungsgremien keine aussagekräftigen Nachhaltigkeitsinformationen bereitstellen beziehungsweise kein Rahmenwerk für den Umgang mit diesen Themen implementieren, werden wir die Unternehmensführung dafür zur Rechenschaft ziehen.“ Fink geht es hier um die Berücksichtigung von Klimarisiken in den Firmenstrategien. Als Christine Lagarde, die Chefin der Europäischen Zentralbank, ähnliche Überlegungen hinsichtlich des Anleihekaufs im Rahmen der Geldmengenexpansion mittels quantitative easing (QE) anstellte, schlug ihr aus der Wirtschaftspresse ein Sturm der Entrüstung entgegen. Ähnliches hat Fink kaum zu gewärtigen.
Ausführlich schildert Berger die Karrieren von Larry Fink und von John Bogle, dem Gründer von Vanguard sowie die Finanzinnovationen, auf denen ihr Aufstieg beruht: neue Anlageformen, die Nutzung von Informationsmonopolen, von Big Data, von komplexen, rechnergestützten Algorithmen für Anlageentscheidungen. Die Erfindung des beliebten Anlagemodells der exchange-tradet funds (ETF) geht auf das Konto von State Street. Freilich: Allein mit ihrem Ideenreichtum, darunter auch bei die Kreation toxischer Wertpapiere und „finanzieller Massenvernichtungswaffen“ (Warren Buffett), lässt sich die Macht dieser Oligarchen nicht erklären. Hinzu kommen die persönlichen und politischen Netzwerke, der intensive Austausch mit Think Tanks, Beratungsfirmen und Regierungen in aller Welt, die Beeinflussung von politischen Entscheidungen auf höchster Ebene und der als „Drehtüreffekt“ bekannte Wechsel von Konzernspitzen in Regierungsämter und umgekehrt. So bildet sich ein Filz aus Finanzunternehmen, Konzernen des Realbereichs und dem Staat. BlackRock ist, so Berger, ein „Staat im Staate“. Leider analysiert Berger an dieser Stelle nicht das komplexe, widerspruchsvolle Wechselverhältnis zwischen gesetzmäßigen Entwicklungstendenzen und machtpolitischen Strategien; ein tieferes Ausleuchten von Macht und objektiven Gesetzen bleibt außen vor. Wenn er schreibt, „die Finanzkrise fiel nicht vom Himmel. Sie war ein sauber geplantes Kapitalverbrechen von bis dahin unvorstellbarem Ausmaß – ein Jahrhundertverbrechen“, kommt darin zwar eine berechtigte Empörung zum Ausdruck, diese Entwicklung wird jedoch etwas zu stark personalisiert. Es wird suggeriert, es handele sich um mehr oder weniger illegale Aktivitäten von ein paar Verbrechern, gar um eine „geplante“ Krise.
Dementsprechend lässt sich zweifeln, ob Bergers durchaus sympathische Vorschläge, wie „wir uns vor den Finanzkonzernen schützen“ können, erfolgversprechend sind. Man müsse dem System der Finanzkonzerne „die Luft nehmen, die sie zum Atmen brauchen“ und plädiert für Maßnahmen zur Eindämmung der Bildung von Sparrücklagen. Diese via BlackRock und Co. angelegten Rücklagen seien die Quelle, aus der die Finanzmacht dieser Konzerne entspringe. Faire Löhne, ein gerechteres Steuersystem und ein umlagefinanziertes Rentensystem – im Interesse des Gemeinwohls unbedingt zu befürwortende Maßnahmen – würden diese Quelle trockenlegen. „Glücklich ist nicht der, der sparen kann, sondern der, der nicht sparen muss“ postuliert Berger. Abgesehen davon, dass das individuelle Sparen nicht die einzige Quelle des überbordenden Finanzvermögens ist – dazu gehört auch das gewachsene Sparen nicht-finanzieller Kapitalgesellschaften und inzwischen auch des Staates; sie sparen in Deutschland zusammen nur knapp 20 Prozent weniger als die privaten Haushalte – ist Sparen nur die Kehrseite von Krediten, ohne die heute keine Wirtschaft funktioniert. Selbst wer der Meinung ist, Kredite könnten vollständig aus dem „Nichts“ geschöpft werden und bedürften keines Sparens, müsste eigentlich schließen, dass der Macht der Finanzkonzerne durch weniger Sparen nicht beizukommen ist.
Von solchen theoretischen Einwänden abgesehen ist Bergers Buch eine Fundgrube für jene, die mehr über die Entstehung und das Wirken der Finanzoligarchie und die Mechanismen der Finanzindustrie erfahren wollen und nach Argumenten zu ihrer Kritik und Bekämpfung suchen. Berger gelingt es, seine fakten- und datenreiche Analyse in einer sehr gut lesbaren und emotional höchst ansprechenden Form darzubieten.
Jens Berger: Wer schützt die Welt vor den Finanzkonzernen? Die heimlichen Herrscher und ihre Gehilfen, Westend Verlag, Frankfurt a.M. 2019, 304 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Finanzkapital, Finanzoligarchie, Jens Berger, Jürgen Leibiger, Machtkonzentration