In seinem Abiturzeugnis fand sich für das Fach Geschichte lediglich ein „Genügend“. Als Student hat er nie eine Lehrveranstaltung in mittelalterlicher Geschichte besucht. Und dennoch: Auch mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod gilt Ernst Kantorowicz als einer der einflussreichsten Mittelalterhistoriker – wenn nicht sogar als der einflussreichste schlechthin. Dass solch eine Persönlichkeit erst vor drei Jahren mit einer Biographie gewürdigt wurde ist erstaunlich. Autor der zunächst in den USA und nun in Deutschland in einer durchgesehenen und erweiterten Fassung veröffentlichten Darstellung ist Robert E. Lerner. Fast drei Jahrzehnte lang hat der heute emeritierte Historiker Material gesammelt, alle relevanten und ihm zugänglichen Dokumente und Korrespondenzen gesichtet sowie etliche Freunde und Bekannte befragt. Er selbst hat zwar nie bei Kantorowicz studiert, ist ihm aber als junger Doktorand im April 1961 in Princeton auf einer Cocktail-Party begegnet: „Ich hatte noch nie jemanden Vergleichbares gesehen. […] Ich hatte auch noch nie eine so merkwürdige Sprechweise gehört: ein seltsamer Singsang. Diese Person schien aus einer anderen Welt zu stammen“.
Geboren wurde Ernst Kantorowicz 1895 in Posen als Sohn eines der größten deutschen Likörfabrikanten. Die Schulzeit lag gerade hinter ihm, da brach der Erste Weltkrieg aus, den er – wie so viele seiner Generation – euphorisch begrüßte. Zurückgekehrt ins zivile Leben immatrikulierte er sich im September 1919 an der Heidelberger Universität. Er belegte Lehrveranstaltungen zur Nationalökonomie, besuchte aber auch die literaturwissenschaftlichen Vorlesungen von Friedrich Gundolf, der vielen als das Alter Ego Stefan Georges galt.
Schon früh hatte sich Kantorowicz für Georges Dichtung und Weltsicht begeistert. Nun begegnete er ihm in Heidelberg persönlich und es schien, als hätte er nach dem Verlust des leiblichen Vaters einen neuen gefunden. Wie anregend die zahllosen Gespräche mit dem „Meister“ für ihn waren, zeigt eine Bemerkung vom 6. November 1920: „Man sieht, wie selbstverständlich, ohne dass man sich angestrengt hätte, plötzlich das Richtige, u. glaubt, es eigentlich schon längst gesehen zu haben.“ George schätzte seinen Jünger. So begleitete er intensiv die Arbeit an dessen Biographie des Stauferkaisers Friedrich II. und bot ihm sogar an, die Hälfte der Druckkosten zu übernehmen. Und Kantorowicz verehrte den „Meister“. Als George am 4. Dezember 1933 im schweizerischen Minusio starb, eilte er in die Schweiz, um zusammen mit anderen Jüngern am offenen Sarg die Totenwache zu halten.
Zu dieser Zeit lehrte Kantorowicz bereits seit einigen Jahren mittelalterliche und neue Geschichte an der Universität Frankfurt/Main. Von den neuen Machthabern wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen, emigrierte er 1939 in die USA, wo er zunächst in Berkeley unterrichtete. Am 25. August 1950 verlor er diese Stelle, hatte er sich doch geweigert, den von den Lehrenden geforderten kalifornischen Loyalitätseid zu leisten, der in seinen Augen nichts weiter als „eine anti-kommunistische Eidformel“ war. Zwar stellte ein Gericht zwei Jahre später die Unrechtmäßigkeit dieser Entlassung fest, da jedoch hatte Kantorowicz bereits eine Anstellung an dem vom „Vater der Atombombe“ J. Robert Oppenheimer geleiteten Institute for Advanced Study in Princeton angenommen, die er bis zu seinem Tod inne hatte.
Als eines von Kantorowicz’ Hauptmerkmalen hebt Lerner dessen Vielseitigkeit hervor. So erinnerte sich ein Zeitzeuge: „Nichts war diesem beweglichen Geist fremd, der durch die Jahrhunderte glitt, während derer sich das Drama der menschlichen Existenz entfaltete.“ Dieser Umstand wird vor allem in seinen Büchern deutlich, deren „besondere methodische Stellung durch den Zugriff auf Quellen abseits des historischen Mainstreams“ bestimmt wird. Ende März 1927 erschien „Kaiser Friedrich der Zweite“, das erste Buch von Kantorowicz, das sogleich zu einem der meistdiskutierten Geschichtswerke der Weimarer Republik wurde. Lerner charakterisiert diese Biographie als „ein Monument der Geschichtswissenschaft“, denn bis heute gilt: „Für Nichtwissenschaftler war das Buch anregend, für Fachexperten nützlich und für beide gleichermaßen: einzigartig.“ Fast zehn Jahre arbeitete Kantorowicz an seinem zweiten Buch, den 1946 publizierten „Laudes Regiae“ („Lobpreisungen des Königs“). Ein wenig im Schatten der beiden anderen Bücher stehend, bleiben sie nach Lerners Auffassung dennoch „bedeutsam für die Geschichte des Königtums und – dank der in ihnen entwickelten Methodik – für das Studium mittelalterlicher ,politischer Theologie‘“. Das dritte und letzte Buch „Die Zwei Körper des Königs“, Originaltitel „The King’s Two Bodies“, wurde 1957 veröffentlicht. Dieses sich mit einer juristischen These der Tudorzeit beschäftigende, ganz ohne Kernthese auskommende Werk ist, so fasst es Kantorowicz zusammen, „ein Produkt christlichen theologischen Denkens“ und folglich ein „Markstein christlicher politischer Theologie“. Für Lerner spiegeln zudem die stabilen Verkaufszahlen und die diversen Übersetzungen die außerordentliche, bis heute anhaltende Wirkung dieses „faszinierend-frustrierenden“ Buches wider.
Es gibt nur wenige Biographien, die sich der darin behandelten Person und vor allem deren Werk so weitgreifend nähern, jedes noch so abseitige Dokument in den Blick nehmen und sich noch dazu so spannend lesen.
Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz – Eine Biographie. Aus dem Amerikanischen von Thomas Grube, Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 553 Seiten, 48,00 Euro.
Schlagwörter: Ernst Kantorowicz, Mathias Iven, Robert E. Lerner