Es war nicht ungewöhnlich, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Artikel aus Anlass eines 70. Geburtstags brachte. Autor der im Mai 1964 veröffentlichten Würdigung war der bekannte Sozialphilosoph Max Horkheimer – doch wer war dieser Friedrich Pollock, über den er schrieb: „[…] seine praktische Wirksamkeit bei der Entstehung, Entfaltung und Erneuerung der Sozialwissenschaften in Deutschland, nicht zuletzt bei der Rettung einzelner ihrer Vertreter zur Zeit der Verfolgung, bildet ein bedeutsames Kapitel in der Geschichte des lange vernachlässigten Forschungszweiges“.
Als Pollock sechs Jahre später in Montagnola, fernab von jeglichem universitären Betrieb starb, vergaß man ihn schnell. Mehr als die Erwähnung in den Fußnoten einschlägiger Fachliteratur schien von Leben und Werk nicht übrig zu bleiben. Er sei „der letzte Unbekannte der Frankfurter Schule“, fasste Rolf Wiggershaus 1994 den Forschungsstand zusammen. Und daran änderte sich auch in den folgenden Jahrzehnten nichts.
Erst unlängst hat der in München lehrende Historiker Philipp Lenhard die erste Friedrich Pollock gewidmete Biografie vorgelegt. Wohl vertraut mit dem Gegenstand – Lenhard ist seit 2018 Herausgeber einer mehrbändigen Ausgabe von Pollocks Gesammelten Schriften –, zeichnet er das facettenreiche Bild eines Mannes kleiner und großer Widersprüche. Nicht nur, dass Pollock als begüterter Fabrikantensohn das Privateigentum abschaffen wollte. Er war, um es mit Lenhard zu beschreiben, „ein Professor, der wenig publizierte; ein Ökonom, der sich an der Börse verzockte; ein Badenser, der sich nur noch im Englischen heimisch fühlte; ein Kommunist, der den Marxismus für anachronistisch hielt; ein Jude, der vom Judentum nichts wissen wollte; und schließlich: ein kritischer Intellektueller, der glaubte, das gute Leben in einer intimen, lebenslangen Freundschaft antizipieren zu können“.
Pollocks Lebensweg schien vorgezeichnet: Nach Ausbildung und Studium hätte er seinen Platz im väterlichen Betrieb finden sollen. Doch da trat 1910 Max Horkheimer in sein Leben. Nach anfänglichen Schwierigkeiten im Umgang miteinander freundeten sich die beiden an, schrieben sich nach dem Ersten Weltkrieg gemeinsam an der Münchner Universität ein – Pollock studierte Staatswissenschaft, Horkheimer Philosophie – und wechselten 1919 an die Frankfurter Uni. Dort lernten sie Felix Weil kennen, der sie in die Kreise namhafter marxistischer Intellektueller einführte.
Weil war es auch, der seinen Vater – einen der bedeutendsten Getreidehändler weltweit – davon überzeugte, Stifter einer Forschungseinrichtung zu werden. Am 3. Februar 1923 wurde das Institut für Sozialforschung offiziell gegründet. Einen Monat später begannen unweit der Frankfurter Universität die Bauarbeiten für das vom Liechtensteiner Architekten Franz Roeckle entworfene und im Zweiten Weltkrieg zerstörte Institutsgebäude, am 22. Juni 1924 fand die Eröffnung statt. Erster Leiter wurde der Rechts- und Politikwissenschaftler Carl Grünberg. Gemeinsam mit Horkheimer und dem neben der Lehre für die Administration zuständigen Pollock entwickelte er die Idee, dass sich das Institut zukünftig mit dem „Wissen und Verstehen des gesellschaftlichen Lebens in seiner ganzen Bandbreite“ beschäftigen sollte. Als Grünberg 1928 nach einem Schlaganfall von der Leitung zurücktreten musste, übernahm zunächst Pollock den Posten, 1931 abgelöst von Horkheimer. Am 13. März 1933 besetzte die SA das Institut und übergab das Gebäude dem NS-Studentenbund. Nach nicht einmal zehn Jahren war es mit der Arbeit vorbei. Wie viele andere musste Pollock emigrieren. Im August 1934, einen Monat nach Horkheimer, kam er in New York an. Sechs Jahre später wurde er Staatsbürger der USA.
Im Oktober 1946 erhielt Friedrich Pollock ebenso wie Felix Weil einen vom neuen Rektor der Frankfurter Goethe-Universität, Walter Hallstein, und Frankfurts Oberbürgermeister unterzeichneten Brief, in dem der Wunsch nach Rückkehr des Instituts bekundet wurde. Doch erst nach fünfjährigem Entscheidungsprozess erfolgte am 14. November 1951 die Wiedereröffnung mit Max Horkheimer als Leiter.
Wie in all den Jahren zuvor hielt sich Pollock auch jetzt im Hintergrund. 1956 legte er sein wissenschaftliches Hauptwerk vor: „Automation. Materialien zur Beurteilung der ökonomischen und sozialen Folgen“. Im Jahr darauf erfüllte er sich gemeinsam mit Horkheimer einen lange gehegten Wunsch: Sie verlegten ihren Wohnsitz in die Schweiz und bezogen im Dezember 1957 zwei benachbarte Häuser in Montagnola.
Pollocks Persönlichkeit lässt sich mit Lenhard in einem Satz umreißen: „Er trat nicht gerne an die Öffentlichkeit, hielt nur widerwillig Vorträge, aber in geschlossenen Zirkeln – seien es Gremien oder Cocktail-Partys – war er ganz in seinem Element.“ Seine theoriegeschichtliche Bedeutung für die Entwicklung der Kritischen Theorie, die zumeist mit den Namen von Horkheimer, Adorno, Benjamin, Fromm oder Marcuse in Verbindung gebracht wird, ist auch heutigentags nur in Ansätzen erfasst. In der Einleitung seines Buches schreibt Lenhard dazu: „Obwohl seine Analysen einer anderen, uns bisweilen fremd erscheinenden Zeit entstammen, sind viele von ihnen – etwa über die wachsende ökonomische Überflüssigkeit der Menschen, die Automatisierung der Industrie oder die zunehmende Bürokratisierung der Gesellschaft – erstaunlich aktuell.“
Die äußerst detailreiche Biographie Lenhards folgt nicht nur Pollocks verschlungenem Lebensweg, sie ist zugleich eine glänzend geschriebene Einführung in dessen neu zu entdeckendes Werk und eine gelungene Überblicksdarstellung zur Geschichte des Instituts für Sozialforschung und der Frankfurter Schule.
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„Die Frankfurter Schule verdient es, dass man sie vor ihren Verleumdern in Schutz nimmt, vor denen, die wissentlich oder unwissentlich die Leistungen jener für eigene Ziele eingespannt haben. Außerdem muss man sich von der Vorstellung befreien, dass sie uns heutzutage, in einem neuen Jahrtausend, nichts mehr zu sagen hat.“ Sie ist, so führt Stuart Jeffries, ehemaliger Journalist des Guardian, im Vorwort seines Buches dazu aus, „für unsere Zeit relevant, weil diese Art von Gesellschaftskritik heute noch angebrachter ist als zu jener Zeit, da diese Worte geschrieben wurden.“ Da stellt sich natürlich die Frage: Warum ist das so? Jeffries meint: „Weil die Herrschaft der Kulturindustrie und der Konsumzwänge über den Menschen heute offensichtlich stärker ist als je zuvor.“
„Grand Hotel Abgrund“ – den Titel seines Buches hat Jeffries bei Georg Lukács entlehnt – versteht sich als eine Art „Gruppenbiografie“ der Frankfurter Schule. Dabei geht es nicht nur um die Darstellung der wechselseitigen Bezüge zwischen den führenden Gestalten, sondern in erster Linie um deren Herkunftserfahrungen. Was Jeffries damit meint, liest sich so: „Alle diese Männer waren intelligent, sie waren sich also der Ironie ihrer historischen Situation durchaus bewusst: dass es ihnen nämlich dank der Geschäftstüchtigkeit ihrer Väter möglich war, sich für ein Leben der Kritik, des Schreibens und der Reflexion zu entscheiden, auch wenn diese Texte und Gedanken ödipalerweise darauf fixiert waren, das politische System zu zerstören, dem sie ihr Leben verdankten.“ Bleibt noch zu klären, wie sich der aus dieser Situation heraus entwickelte theoretische Ansatz definieren lässt. Jeffries’ Vorschlag: „Wenn kritische Theorie überhaupt irgendetwas bedeutet, dann ist damit jene Art radikalen Neu-Denkens gemeint, die als Herausforderung der offiziellen Versionen der Geschichte und des intellektuellen Strebens zu verstehen ist.“
Was Jeffries präsentiert, ist eine teils recht eigenwillige, gern abschweifende und vielfach an der Oberfläche sich bewegende Interpretation der Philosophie- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die erste Hälfte des Buches liest sich wie eine Biografie Walter Benjamins, der bekanntermaßen nie zur Belegschaft des Instituts für Sozialforschung gehörte. Jeffries zufolge war er jedoch für Horkheimer, Adorno und deren Mitstreiter „der wichtigste intellektuelle Impulsgeber“. Eine außerordentliche „Suggestionskraft“ ging vor allem von seinen autobiografischen Erinnerungsschriften aus. Benjamin setzte sich darin nicht nur mit dem Verlust seiner eigenen privilegierten Kindheit auseinander, er reflektierte zugleich das Abhandenkommen jener Welt, die diese Kindheit ermöglicht hatte – ein den führenden Denkern der Frankfurter Schule wohlbekannter Umstand. Jeffries’ Fazit: „Benjamin und die Denker der Frankfurter Schule befreiten die Opfer des Kapitalismus durchaus nicht aus ihrer Hölle, sie wurden vielmehr zunehmend spöttische und gewandte Kritiker dieses Zustands.“
Philipp Lenhard: Friedrich Pollock – Die graue Eminenz der Frankfurter Schule. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 383 Seiten, 32,00 Euro.
Stuart Jeffries: Grand Hotel Abgrund – Die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Aus dem Englischen von Susanne Held. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2019, 509 Seiten, 28,00 Euro.
Schlagwörter: Frankfurter Schule, Friedrich Pollock, Mathias Iven, Max Horkheimer, Philipp Lenhard, Stuart Jeffries, Walter Benjamin