23. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2020

Womit Huntington Recht behalten hat

von Wilfried Schreiber

Mitte der 1990er Jahre war Samuel P. Huntingtons Buch zum „Kampf der Kulturen“ über lange Zeit einer der umstrittensten und meistdiskutierten Titel im Westen. Der US-amerikanische Historiker und Soziologe hatte damit nach dem Ende des Kalten Krieges und unter den Bedingungen der ungebremsten Globalisierung den Versuch gemacht, die Frage nach der Zukunft der Weltpolitik im 21. Jahrhundert neu zu beantworten. Nachdem sich der vor allem ideologische bedingte Gegensatz der beiden bis dahin dominierenden Weltsysteme aufgelöst hatte, betrachtete Huntington den „Zusammenprall“ unterschiedlicher Kulturen als die entscheidende Herausforderung der nachfolgenden Zeit.

Über rund 570 Seiten beschrieb Huntington die inneren und äußeren Konflikte von acht Kulturkreisen der Menschheit insgesamt, insbesondere aber deren Interaktion mit dem Kulturkreis des Westens, den er als die am meisten fortgeschrittene Zivilisation der Welt betrachtete. Die Frage des Kampfes der Kulturen soll hier aber nicht weiter erörtert werden, da dieser Kampf in der prognostizierten Weise ja gar nicht stattgefunden hat und viele der uns heute bewegenden Fragen und Weltprobleme damals noch gar nicht auf der Agenda standen.

Aus der Sicht von heute stellt sich das Buch vor allem als eine Warnung an den transatlantischen Westen dar. Es ging um das manichäische Weltbild des Westens, um die Teilung der Welt in Gute und Böse, in „wir und die Anderen“, wie Huntington schrieb. Dieses Weltbild beruht auf dem Selbstverständnis des Westens als höchste Stufe der menschlichen Zivilisation – im Unterschied und durchaus auch im Gegensatz zu allen anderen real bestehenden Kulturen, respektive Zivilisationen, in deren Rahmen die annähernd 200 Staaten dieser Welt koexistieren. Huntington kritisierte diesen universalistischen Anspruch des Westens. Im Schlusskapitel seines Buches vermerkte er, dass „der Glaube an die Universalität der westlichen Welt an drei Problemen [krankt]: er ist falsch, er ist unmoralisch, und er ist gefährlich“.

In der Brisanz dieser Aussage liegt wohl auch der eigentliche Grund für die Versenkung dieses Buches in den Strudel des Vergessens.

Doch dieses Buch ist brandaktuell. Das 21. Jahrhundert erweist sich bisher tatsächlich als Jahrhundert voller neuartiger regionaler Kriege. Und die Kombattanten sind zugleich auch Angehörige verschiedener Kulturkreise. Aber die Entwicklung vollzieht sich nicht so, wie man Huntingtons Vision interpretiert hat – als ein chaotisches Aufbegehren aller gegen alle. Vielmehr ist der transatlantische Westen in seinem Anspruch auf globale Hegemonie in alle diese Kriege involviert. Er tut dies interessendeterminiert, verkauft dies nach außen hin aber als vor allem werteorientiert.

Der erste klassische Interventionskrieg dieser Art fand 1999 auf dem Balkan mit dem Krieg der NATO gegen Serbien um den Kosovo statt. Es folgten die Interventionen in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien. Der Nahe und Mittlere Osten brennt – und der Westen ist mit seinen Soldaten immer dabei. Meist in Gestalt von „Koalitionen der Willigen“ aus NATO-Staaten. Die Folgen solcher Kriege sehen und spüren wir am deutlichsten an den Flüchtlingsströmen, die übers Mittelmeer oder den Balkan nach Europa kommen.

Als Begründung für Militäraktionen solcher Operationen müssen meist moralische Argumente herhalten. So sollte ursprünglich die responsibility to protect, die sogenannte Schutzverantwortung zur Wahrung von Menschenrechten – insbesondere in Staaten außerhalb der westlichen Demokratien – als neues Völkerrechtsprinzip zur Rechtfertigung von Militäraktionen installiert werden. Die Idee scheiterte 2011 mit der Überziehung eines UN-Mandats durch den Sturz Gaddafis und die Zerstörung des libyschen Staates infolge einer solchen Intervention.

De facto trägt die Verabsolutierung der Werteorientierung in der Außenpolitik Deutschlands und der EU missionarische Züge mit neokolonialistischem Touch. Das Wertesystem des Westens wird als Verkörperung allgemein menschlicher Werte dargestellt. Aus der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen werden selektiv und einseitig spezifisch westliche Werte wie Freiheit, Demokratie oder Wohlstand hervorgehoben. Aber diese Werte sind keineswegs die zentralen Kategorien der Innenpolitik aller Staaten dieser Erde, sondern lediglich jene „einer offenen freiheitlichen Gesellschaft“, wie auch in politologischen Texten hierzulande immer wieder betont wird.

Der damit einhergehende Überlegenheitsanspruch der westlichen Kultur und Zivilisation allerdings ist konfliktfördernd und friedensgefährdend. So deutlich sagte es Huntington nicht. Aber genau darauf lief es hinaus, wenn er in seinem Buch betonte: „Der Westen eroberte die Welt nicht durch seine Ideen und Werte oder seine Religionen […], sondern durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt“. Man könnte meinen, dieser Satz sei extra für die Kennzeichnung der „America-first-Politik“ von US-Präsident Trump oder auch zur Bewertung der geopolitischen Ansprüche Deutschlands und der Europäischen Union von heute geschrieben worden. Dabei ist es zweitrangig, ob die militärische oder die wirtschaftliche Gewalt des Westens gemeint ist.

Huntington hatte in seinem Buch sogar einen Ansatz zur Lösung – oder besser gesagt, zur Verhinderung von Konflikten formuliert. Bereits im ersten Kapitel – gewissermaßen als Prämisse für alle weiteren Betrachtungen – schrieb er: „Ein weltweiter Kampf der Kulturen kann nur vermieden werden, wenn die Mächtigen dieser Welt eine globale Politik akzeptieren und aufrechterhalten, die unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigt“.

Genau das aber haben die führenden Eliten des Westens nie ernsthaft in Erwägung gezogen oder gar getan. Insofern waren und sind die meisten regionalen Kriege der letzten zwei Jahrzehnte in der Welt quasi unvermeidliche Folgen westlicher Politik. Man muss die Vision Huntingtons vom Kampf der Kulturen keineswegs teilen; unbestreitbar bleibt jedoch die tiefe Kluft zwischen dem Westen und dem Rest der Welt.

Womöglich hat die deutsche Bundeskanzlerin vor nicht allzu langer Zeit im Huntington gelesen und ihn auch verstanden. Denn schon seit ihrer Neujahrsansprache 2019 hat sie mehrfach vorsichtig formuliert, dass es notwendig sei, die Interessen und Positionen der anderen Seite „immer mitzudenken“. Vielleicht meinte sie damit sogar, dass die Interessen und Positionen der anderen Seite „berücksichtigt“ werden müssten. Das könnte zum Auftakt zu einem tatsächlichen Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik werden.