23. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2020

Vom Erklären, vom Verstehen und vom Urteilen

von Klaus Weber

I

„Glauben Sie, dass ich hier
nicht über die Gegenwart schreibe?“

Christa Wolf

Fünfmal war ich – mit Studenten, mit Gewerkschafteren, zuletzt mit meiner Liebsten – in Oświęcim. Die Bilder, die bleiben, erklären nichts: Im Stammlagen die Backsteingebäude, darunter der berühmt-berüchtigte Block 11. Am Eingang das eiserne Tor mit der Inschrift „Arbeit macht frei“. Im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II) ist weitgehend nichts zu sehen außer Gleisen, die im Nichts enden. Der Name: „Rampe“. Dahinter ein Denkmal, rechts davon („ein Schritt und Sie sind im Bereich der Vernichtung“, sagt der polnische „Führer“) zerfallene Ziegelsteinmauern; noch weiter in Richtung Birken- und Kiefernwald ebenfalls zerfallene Gebäude, die „Krematorien“ genannt werden. Ohne historisches, politisches, ökonomisches Wissen, ohne theoretische Anstrengung kann nicht verstanden werden kann, wie dieser Ort möglich wurde und was dort (wie in Treblinka, Belzec, Sobibor und Lublin-Majdanek auch) geschah.

II

Zwei Bücher, die 2020 mit einem dritten beendet werden sollen: „Hartenstein“ ihr Titel. Wolfram Adolphi, den ich durch einen langen Spaziergang in Esslingen kenne (als Mitautor des „Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus“), schrieb mir 2016 eine Email mit dem dezenten Hinweis auf sein Buch. Zu einer Bahnfahrt nach Rudolstadt zum Theater, dessen Intendant Steffen Mensching mich zu einer Lesung eingeladen hatte, nahm ich es ins Handgepäck: Lust auf DDR-Wissen von einem, dem ich es auch abnehmen konnte. War der Anfang sperrig (was interessieren mich die schlechten Straßen in Leuna?) und das Buch äußerlich nicht wirklich schön, so bin ich nach vierzig Seiten gefesselt. Erst: Die Klarheit darüber, dass Sieger die Geschichte schreiben – der zerstörende Westkapitalismus also mit dem verbeulten Ostsozialismus abgerechnet hat, sodass der (und die Menschen, die „darin“ lebten) schließlich gar nicht mehr existiert haben können. Dann: Das Leben des Großvaters von Jakob Hartenstein, dessen Drang „nach Osten“, der ihn schließlich von Leuna nach Auschwitz-Monowitz gehen ließ – ein Angebot der IG Farben annehmend. Die Spuren des – in der DDR zum berühmten Verfahrenstechniker aufsteigenden – Hartenstein lassen mich die kleine Geschichte in der großen der Welt lesen: ohne Empörung, ohne Schuldzuweisung, ohne Rechthaberei des Nachgeborenen. Im zweiten Band der radikale Wechsel von der „Täter“-Geschichte zu der der Opfer – die der Vernichtung preisgegeben waren. Beide Erzählungen sind eingebettet in die Nachforschungen des Enkels Anfang des 21. Jahrhunderts; herausgefordert wird er von einer mal sensiblen, mal hochmütigen linksradikalen Freundin, die anstatt zu verstehen lieber Schuld zuweist; das Gestern ist im Heute aufbewahrt, das Kleine im Großen – und unser subjektives Tun und Denken wird angesichts der zunehmenden Rechtsentwicklung in Deutschland fraglich.

III

„alles denken nach vorn
macht in der brd halt bei der ddr.“

Volker Braun

Ich hab’ noch kein Buch gelesen, das mir die deutsche Geschichte, vor allem die Nazizeit, so klar vor Augen führte, wie „Hartenstein“. Und endlich kann ich verstehen, wie Menschen sich nach 1945 für die DDR entscheiden konnten als Land, in dem sie leben wollten.

Meine Freundin liest „Hartenstein“ ohne Pause. Wochenlang reden wir über kaum etwas anderes als unsere Leseerfahrungen, unser Westwissen und die Feinheiten der Adolphischen Romankomposition: Seine Schreibweise ermutigt uns, auf die Nazizeit einen neuen Blick zu entwickeln, DDR-Geschichte gegen den westdeutschen Strich zu erforschen und die Entwicklung des neuen Faschismus in AfD und Pegida aufmerksamer, aber auch zorniger ins Auge zu fassen. Wenn Adolphi sagt, man könne Auschwitz nicht in einem Roman darstellen, es nicht „romanisieren“, so schafft er es dennoch, das Wissen um die tägliche Menschenvernichtung in unscheinbaren, dafür umso wirksameren Bildern für uns Heutige aufzufangen. Da ist im zweiten Band die Nach-Erzählung des von Primo Levi nach seiner Befreiung aus Auschwitz niedergeschriebenen Sachberichts über die Zuteilung von Holzpantinen an die Häftlinge und deren „Kampf um diese Schuhe“. Jeder von ihnen weiß, dass das Finden des passenden Schuhs die Entscheidung über Leben und Tod entscheidet. Ein zu kleiner Schuh, der reibt und an dem der Fuß sich entzündet, als Folge das Zurückbleiben in der Marschkolonne und der Todesschuss durch den SS-Mann. Der Holzschuh – Symbol dieses „von vornherein auf Auslöschung der Lebenden zielenden“ Regimes.

IV

„Ich fände es anmaßend, über Auschwitz zu schreiben. […]
Über Auschwitz kann man nicht schweigen.“

Heiner Müller

Auschwitz, Birkenau, Buna-Monowitz: Drei Orte, an denen die Deutschen Millionen von Menschen ermordeten – weitab von dort, wo das Morden seinen Anfang nahm. „Hartenstein“ beschreibt die Übergänge vom einfachen deutschen Leben in einer Industriestadt zur Arbeit in dem von der IG Farben gebauten Produktionsstandort in Monowitz, in dem Vernichtung durch Arbeit betrieben wurde.
Der Enkel will verstehen: Wie konnte der Großvater die „Arbeit“ machen, Seite an Seite mit Häftlingen, die neben ihm wie Fliegen wegstarben? Wie konnte er so tun, als würde er von Birkenau nichts wissen oder wissen wollen?

V

Im Sommer 2019 fahre ich nach Potsdam, um Wolfram Adolphi zu treffen. Da sitzt er in seinem Schreibzimmer, berichtet von den enormen Unterschieden von DDR und BRD hinsichtlich der „Aufarbeitung“ der Geschichte vor 1945; vom Verstehenwollen der in vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnissen arbeitenden, lebenden und liebenden Menschen, das aber an keinem Punkt zur Rechtfertigung unmenschlicher Taten geraten darf; und von der Gleichheit des Ostens wie des Westens, wenn es um die „Schonung“ der IG Farben ging. Der Westen wollte den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Menschenvernichtung ent-nennen; der Osten keinesfalls die so wichtigen Werk in Buna und Leuna mit einer unangenehmen Vor-Geschichte versehen wissen. Doch Adolphi weiß, dass das Leben der Menschen widersprüchlich ist, damals wie heute – exemplarisch manifestiert in des Großvaters „Sprung von der Nazizeit in die DDR“ (H1, 52), wo dieser, „sehr zur Verwunderung der anderen ehemaligen I.G.-Männer, Mitglied der neuen Einheitspartei“ (H1, 250) werden konnte. Adolphi will erklären, wie Faschismus anfangen kann und wie die Einzelnen sich durch ihr Denken, ihr Handeln und Fühlen mit den Nazis zusammen oder ohne großen Einklang mit ihnen „arrangierten“. Der Autor weiß, dass den deutsche Faschismus nur von Auschwitz her zu denken, zu kurz greift – und er weiß gleichzeitig, dass dieser Faschismus ohne Auschwitz nicht zu verstehen ist. So verbleibt Adolphi im Widersprüchlichen, wo andere (vor allem die nachgeborenen Westdeutschen) sich mit selbstgerechten Urteilen gegenüber Eltern und Großeltern selbst Absolution erteilen.

VI

Auschwitz hat seine Anfänge vor der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942. Diese Anfänge hätten „gestoppt, noch umgebogen werden können“ (H2, 112). Wer „Hartenstein“ aufmerksam liest, kann über den Gedanken erschrecken, dass angesichts des Aufwuchses von AfD und Pegida wieder eine historische Chance zum „Umbiegen“ verpasst werden könnte …

Wolfram Adolphi: Hartenstein, Band 1: Der Balte vom Werk, Nora Verlag, Berlin 2015, 356 Seiten, 23,50 Euro; Band 2: Im Zwielicht der Spuren, 2018, 380 Seiten, 24,50 Euro.