23. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2020

Schneegestöber in der Seelenwüste

von Joachim Lange

Die letzten Töne der Uraufführung von Olga Neuwirths „Orlando“ in der Wiener Staatsoper im vergangenen Dezember hingen quasi noch in der Luft, da wartete Nikolaus Bachler an der Bayerischen Staatsoper in München immerhin mit einer deutschen Erstaufführung auf. Da die Oper in München – alles in allem – wenn nicht das, so mindestens eins der wichtigsten Opernhäuser Deutschlands ist, und Bachler aus Österreich kommt (er war dort unter anderem Burgtheaterdirektor und wird nach dem Ende seiner Münchner Zeit in Salzburg bei den Osterfestspielen die Leitung übernehmen), darf man ihm wohl durchaus unterstellen, dass er das Programm der Wiener Staatsoper besonders im Blick hat.

Aber wie dem auch sei – die gelegentlich zu hörende These, dass die Oper am Ende sei, lässt sich auch deshalb überzeugend widerlegen, weil das Genre immer noch Novitäten hervorbringt, die über einen Kreis von Spezialisten hinaus auch beim breiten Publikum Anklang finden. In der jüngeren Vergangenheit gab es da einige herausragende Beispiele. An der Flämischen Oper in Antwerpen etwa riskierten Hèctor Parras und sein Librettist Händl Klaus, aus Jonathan Littells aufwühlendem Roman „Die Wohlgesinnten“ ein Oper zu machen. Das gelang ebenso spektakulär wie Pascal Dusapins Antwort auf Verdi mit „Macbeth Underworld“ in Brüssel. Beat Furrers apokalyptische, gleichsam nach innen gerichtete Oper „Violetter Schnee“ an der Lindenoper in Berlin kann mithalten. Nebenan, an der Deutschen Oper, wurde zum Fontane-Jahr die einer Novelle des Wanderers durch die Mark Brandenburg folgende „Oceane“ Detlev Glanerts bejubelt. Und in Cottbus steuerte Siegfried Matthus eine eher klassisch daherkommende, sofort eingängige Effie-Briest-Oper bei.

Und das sind nur wenige Beispiele. Wobei der jeweilige Erfolg bei der Uraufführung noch kein Indiz für die Chance eines Werkes ist, einen Platz im immer kleiner werdenden Repertoire zu erobern. Ob das gelingt, hängt nicht nur von der Qualität ab und erweist sich erst nach einigen Jahren, respektive Nachinszenierungen.

*

„The Snow Queen“ („Die Schneekönigin“) des dänischen Komponisten Hans Abrahamsens wurde im Oktober in Kopenhagen mit dänischem Text uraufgeführt. Ihrer Reise in die Welt ist aber die englische Version dienlicher, die jetzt bei der Deutschen Erstaufführung in München zu erleben war. Das Stück passte gut zur Jahreszeit. Auch wenn es nur jede Menge Kunstschnee auf der Bühne gibt und sich keine echte Flocke vor der Tür blicken ließ.

Dass es am Ende der Premiere ein paar lautstarke Buhs gab war umso erstaunlicher, als es – anders als im Falle von Neuwirths „Orlando“ in Wien – keinen szenischen Sinkflug mit Notlandung im Plakativen, Platten gab, sondern diese „Schneekönigin“ im zweiten Teil musikalisch und szenisch sogar noch mit einem Spannungscrescendo aufwartete.

Regisseur Andreas Kriegerburg hat sich diesmal nämlich nicht auf die großen Bilder beschränkt, sondern das der Oper zu Grunde liegende Märchen von Hans Christian Andersen auf den psychologischen Grund reduziert und von dort aus neu erzählt.

Er macht aus dem Märchen eine ambitionierte Suche nach sich selbst. Die durch den Verlust von ihres Freundes Kay traumatisierte Gerda sucht natürlich auch hier verzweifelt nach diesem. Man könnte es aber auch so sehen, dass sie sich nach einer Möglichkeit umsieht, ohne ihn zu (über-)leben. Dabei kommt sie der Welt außerhalb der Nervenklinik, in die das Geschehen verlegt ist, zwar abhanden, findet aber zu sich selbst in der Erinnerung an die gemeinsame Kindheit und in der Begegnung mit einem von ihr imaginierten Kay. Lässt man sich auf dieses Spiel mit der Wahrnehmung ein, wird klar, wieso auch die erwachsenen und kindlichen Alteregos der Protagonisten, die ebenfalls auf der Bühne agieren, durch ein reales und metaphorisches Schneegestöber irren.

Kriegerburg imaginiert im Bühnenbild von Harald B. Thor und mit den Kostümen von Andrea Schraad eine poetische Alptraumwelt. Wenn sich die schäbige Anstaltsmauer dicht an der Rampe öffnet, werden hintereinander gestaffelte, gleißend weiße Räume sichtbar. Dort gibt es zwar einen OP-Saal, respektive einen für die Pathologen – Kay hat ja in der Geschichte einen teuflischen Splitter im Auge und im Herzen. Es gibt dort aber auch sprechende (natürlich operngemäß singende) Krähen (Kevin Conners und Owen Willetts), ein helfendes Rentier, einen Prinzen und eine Prinzessin (Dean Power und Caroline Wettergreen), Wächter mit Chirurgenkitteln oder Krankenschwestern, die wie Engel durch den Schnee huschen, der unentwegt aus den im Schnürboden sichtbaren Trommeln rieselt.

Es wird nicht ganz klar, was mit Kay eigentlich passiert ist. Die Begegnung mit der Schneekönigin lässt Spielraum für eine Deutung als Missbrauch. Bei Abrahamsen ist diese Königin nicht etwa ein Koloratursopran, sondern ein Bass. Den verkörpert Peter Rose als übergriffigen Herrn im Pelz. Er ist mit der Titelfigur nicht überlastet, und kann sowohl die Uhr am Ende sowie das fast sprechsingende und anrührend spielende Rentier mit übernehmen.

Wenn Gerda ihrem Kay begegnet, dann ist es das stumme Double (Thomas Gräßle). Singt er mit Wärme und Eloquenz (vehement: Mezzosopranistin Rachel Wilson), erreicht er sie nicht. Nahe kommen sie sich in einem hinreißenden Liebesduett. Da singen beide das stumme Double des jeweils anderen an. Das ist ein langer Moment poetischer Traurigkeit, in dem die Musik alles Schräge, Klirrende aufgibt und direkt ans Herz geht.

Barbara Hannigan bewegt sich als Gerda auf der Bühne, als gäbe es für sie keine Schwerkraft. Und sie singt überdies so, als gäbe es auch keine vokalen Hürden für diese außergewöhnliche Sängerdarstellerin.

Im Märchen würde das für ein Happy End genügen. In Kriegenburgs Deutung bleibt es eine imaginierte Begegnung. Das immerhin.

Die von Cornelius Meister am Pult des Bayerischen Staatsorchesters imponierend zusammengehaltene Musik beginnt tröpfelnd und klirrend, erzeugt aber alsbald einen Sog, ein tonales Rieseln, das auf minimalistische Wiederholungen setzt und melodisches Einschmeicheln nicht scheut. Diese Musik macht Kälte ebenso hörbar wie die Sehnsucht nach menschlicher Wärme. Vielleicht kommen ja die rumorend dräuenden Ausbrüche im Graben aus einer Welt, die das Glück nur als Erinnerung an unschuldige Kindertage zulässt?

Bis 29. Januar 2020 steht „The Snow Queen“ als Video-on-Demand im Internet zur Verfügung – hier klicken.