23. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2020

Kafka und die neueste Zeit

von Angelika Leitzke

Am 29. September 1911 notierte Franz Kafka in Prag in sein Tagebuch: „Reisebeobachtungen Goethes anders als die heutigen, weil sie aus einer Postkutsche gemacht mit den langsamen Veränderungen des Geländes sich einfacher entwickeln und viel leichter selbst von demjenigen verfolgen werden können, der jene Gegenden nicht kennt. Ein ruhiges förmlich landschaftliches Denken tritt ein. Da die Gegend unbeschädigt in ihrem eingeborenen Charakter dem Insassen des Wagens sich darbietet und auch die Landstraßen das Land viel natürlicher schneiden als die Eisenbahnstrecken, zu denen sie vielleicht im gleichen Verhältnisse stehen wie Flüsse zu Kanälen, so braucht es beim Beschauer keine Gewalttätigkeiten und er kann ohne Mühe systematisch sehn.“

Inzwischen sind Automobil, Telefon, Flugzeug, Waschmaschine, Computer, Internet, Smartphone, E-Reader und andere Dinge erfunden wurden, die das Leben scheinbar erträglicher machen. Mit ihnen auch das Penicillin, das Kafka, der 1924 mit erst vierzig Jahren an Tuberkulose starb, vermutlich zu einem längeren Erdendasein verholfen hätte. Doch wäre er ab März 1939, nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag, als von den Nazis als „entartet“ abgestempelter Autor, noch dazu jüdischer Herkunft, sofort in die Mühlen des braunen Terrors geraten und vielleicht in einem KZ elend verreckt. So gesehen meinte es die göttliche Weltgeschichte also in gewisser Weise gut mit ihm.

Kafka, der nach Paris, Berlin, Italien und der Schweiz nicht mehr mit der Kutsche, sondern via Bahn reiste, griff in seinem Tagebucheintrag ein interessantes Phänomen auf: wie die Technik unsere Wahrnehmung verändert. Und sie transformiert auch – scheinbar unbemerkt, doch unaufhaltsam – unsere zwischenmenschliche Kommunikation, die der Tscheche zu seiner Zeit noch durch handgeschriebene Briefe, Blumensträuße für angebetete Schauspielerinnen oder geselliges Beisammensein in den einschlägigen Prager Lokalitäten pflegte.

Man kann den Faden seines Tagebucheintrags weiter spinnen: verhält sich also das gute alte Telefon zum Smartphone wie der hauseigene Swimmingpool zum Strömungskanal? Oder das Auto zur Kutsche wie das Maschinengewehr zum Vorderlader, der Computer zur Schreibmaschine wie das Manuskript zu den steinzeitlichen Felszeichnungen von Altamira?

Interessant wäre auch die Überlegung, inwieweit neue Technologien die Arbeit der schreibenden Zunft beeinflussen. Kafka als ausgebildeter Jurist benützte für seinen Brotberuf, einen Job bei der „Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag“, zwar eine Schreibmaschine der Marke Oliver 5, doch seine literarischen Texte und seine Tagebücher schrieb er mit der Hand. Vielleicht hätten sie sich anders gestaltet, wären sie in die Maschine gehackt worden.

In seiner im Oktober 1914 entstandenen surrealen Erzählung „In der Strafkolonie“ taucht ein Schreibgerät auf, das dem Verurteilten das Gebot, das er übertreten haben soll, als Auftakt einer qualvollen Exekution buchstäblich in den Körper ritzt – Kafkas Metapher für die Diktatur der Maschine wie für jegliches totalitäres Regime. Die „Verbesserung“ dieses Apparates, wie von Kafka beschrieben, führt zu einem schnelleren Tod des Delinquenten.

Nähert sich, so könnte man fragen, also derjenige, der sich die neuen Technologien des 21. Jahrhunderts einverleibt hat und damit in Hochgeschwindigkeit lebt, während er die Von-Angesicht-zu-Angesicht-Interaktion hat in virtuellen Kanälen verschwinden lassen, dem Exitus noch schneller nähern an als Derjenige, der sich dem Allen verweigert?

Hatte Kafka davon bereits eine Vorahnung? In seinem Tagebuch ist jedenfalls bereits festgehalten: „Ich werde, da ich von Grund aus fertig zu sein scheine – im letzten Jahr bin ich nicht mehr als fünf Minuten aufgewacht – jeden Tag mich von der Erde wegwünschen müssen oder aber, ohne dass ich darin auch die mäßigste Hoffnung sehe dürfte, von vorn als kleines Kind anfangen müssen.“