Der Einsatz von chemischen Waffen ist international als Verbrechen geächtet. 2018 erhielt die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) die Befugnis, Vorwürfe von Chemiewaffeneinsätzen nicht nur zu untersuchen, sondern auch den oder die Schuldigen an solch abscheulichen Taten zu benennen. Das ist eine politisch sensible Aufgabe, die volle Objektivität verlangt. Schließlich berichtet die OPCW auch dem UN-Sicherheitsrat. An diesem Punkt kommt die Untersuchung der OPCW zum mutmaßlichen Giftgaseinsatz in Douma, Syrien, im April 2018 ins Spiel.
Dieser angenommene Einsatz mit Chlorgas galt als Beispiel der verbrecherischen Politik von Assad, Chemiewaffen gegen Zivilisten zu richten. Damals erklärte ein Sprecher der „Weißhelme“ gegenüber dpa, mindestens 42 Menschen seien getötet und hunderte verletzt worden. Die „Weißhelme“ veröffentlichten ebenfalls ein Video.
Die Bundesregierung zögerte nicht, diesen mutmaßlichen Giftgasanschlag scharf zu verurteilen. Die Evidenz eines solchen Angriffs, so zitierte die Süddeutsche Zeitung die Bundeskanzlerin, sei „sehr klar und sehr deutlich“. Sie schloss sich damit Vorwürfen der USA an und befürwortete auf dieser Grundlage den „Vergeltungsschlag“ dreier NATO-Verbündeter gegen Syrien am 14. April 2018 als „angemessenes und erforderliches Signal“. Gleichzeitig unterstützte die Bundesregierung die Mission der OPCW, dem Geschehen in Douma detailliert nachzuspüren. Und sie gab Russland, dem Verbündetem von Assad, eine politische Mitschuld an dem Verbrechen.
Syrien und Russland wiesen umgehend alle Anschuldigungen zurück. Russland erklärte, es hätte sich um eine getürkte Aktion gehandelt, und forderte eine Inspektion des Tatortes. Frankreich und die USA wiederum befürchteten, Syrien und Russland könnten vor Ort Beweise beseitigen, bevor die OPCW-Inspektoren ihre Arbeit beginnen würden.
Sowohl der vorläufige als auch der abschließende Bericht der OPCW, letzterer vom März 2019, stützten die Sichtweise der Bundesregierung und der westlichen Staatengemeinschaft. Über alles wurde in den Leitmedien breit berichtet.
Bereits im April 2018 gab es allerdings einige Stimmen im Westen, die warnten, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen. In den USA waren es Laura Ingraham und Tucker Carlson von Fox News. Carlson – unter den politischen Kommentatoren im amerikanischen Kabelfernsehen erreichte er 2019 die zweithöchste Zuschauerzahl – fragte, warum Assad zu diesem Zeitpunkt die internationale Ächtung riskieren sollte. Der Moderator erinnerte unter Verweis auf den US-Verteidigungsminister daran, dass die USA schon 2017 einen „Vergeltungsschlag“ verübt hätten, aber noch immer keine Belege besäßen, dass es 2017 in Syrien einen Giftgasanschlag mit Sarin gegeben hätte. Carlson bezog sich hierbei auf einen Bericht von AP vom 2. Februar 2018.
Im Februar 2019 teilte Riam Dalati, ein Produzent der BBC, mit, er könne zweifelsfrei beweisen, dass das von den „Weißhelmen“ in Umlauf gebrachte Video ein Fake sei. Die BBC beschwichtigte, dass ihr Mitarbeiter nicht bestritten hätte, dass es einen Anschlag gegeben habe.
Im Mai 2019 gab es einen ersten Whistleblower aus dem Kreis der OPCW, den Südafrikaner Ian Henderson. Er wandte sich an eine britische NGO. Henderson hatte im Auftrag der OPCW einen Expertenbericht erstellt. Darin ging es um die Frage, wie die mutmaßliche Vergiftung in Douma abgelaufen sein sollte. Wo waren die zwei Giftgasbehälter hergekommen? Waren sie vom Himmel gefallen (syrische Luftwaffe) oder wurden sie platziert? Letzteres hätte die syrische Armee nicht bewerkstelligen können.
Henderson zog weitere Experten aus OPCW-Staaten zu Rate. Schließlich schlussfolgerte er, dass eine höhere Plausibilität dafür spräche, dass die Behälter platziert worden seien.
Nachfragen zum Henderson-Bericht wiegelte die OPCW zuerst ab, räumte dann jedoch die Echtheit des Dokuments gegenüber Peter Hitchens, einem Journalisten der Daily Mail, ein.
Aus Wikileaks-Veröffentlichungen geht inzwischen hervor, dass der Chef des Beraterstabs des Generalsekretärs der OPCW im Februar 2019 angewiesen hatte, jede Aktenspur des Henderson-Berichts zu tilgen.
Nach dem Bekanntwerden des Berichtes schien die Geschichte wieder einzuschlafen, bis im Herbst 2019 Ergebnisse einer Expertenanhörung durch Wikileaks öffentlich wurden. Der ehemalige Generalsekretär der OPCW, Bustani, nahm an dieser Expertenanhörung teil und bezweifelte die offizielle Darstellung des Geschehens von Douma. Inzwischen hatte sich ein zweiter OPCW-Whistleblower, „Alex“, offenbart. Er ist einer der Experten, die in Douma vor Ort waren.
Reuters veröffentlichte im November 2019 eine Stellungnahme der OPCW, die das Arbeitsergebnis zu Douma als unparteiisch verteidigte und suggerierte, es handele sich lediglich um Streit unter Experten.
Im November und Dezember 2019 präsentierte Wikileaks weitere interne Dokumente der OPCW, denen zufolge der offizielle Bericht der OPCW zu den Geschehnissen in Douma nicht mehr als das Werk unabhängiger Experten erscheint, sondern als bewusst verfälschtes Ergebnis, das politischen Vorgaben genügte. Die Experten der OPCW, die auf einer durchaus gefährlichen Mission in Douma waren, hatten keine chemischen Spuren eines Angriffes durch Chlorgas gefunden. Sie konsultierten daher am 6. Juni 2018 auch Chemiewaffenexperten eines weiteren OPCW-Mitgliedstaats (laut Hitchens war es Deutschland), um herauszufinden, ob die Vergiftungssymptome der Opfer, die im Video präsentiert wurden, und die nicht der einer Chlorgasvergiftung entsprachen, eventuell durch ein anderes Gift hervorgerufen worden sein könnten. Die Experten verneinten auch das. In dieser Konsultation wurde auch die Option erörtert, es mit einem Fake zu tun zu haben.
Das alles wurde durch die OPCW unterdrückt, und acht der neun Inspektoren, die in Douma vor Ort waren, wurden von der Erstellung des endgültigen Berichts ausgeschlossen. Das ist äußerst unüblich.
Zweimal berichtete die Sonntagsausgabe der Daily Mail (Peter Hitchens), ergänzt durch eigene Recherchen. Tareq Haddad, ein Reporter des Londoner Büros von Newsweek, hatte ebenfalls recherchiert, wurde allerdings von der Redaktion gehindert, seine Ergebnisse zu veröffentlichen. Er kündigte daraufhin im Dezember 2019 und machte diesen Vorgang öffentlich. Anfang Januar 2020 brachte der „Independent“ einen Artikel von Robert Fisk, der mit „Alex“ gesprochen hatte.
In den USA war es wiederum Tucker Carlson, der Ende November über die eigenartigen Vorgänge in der OPCW berichtete. Er interviewte dazu Jonathan Steele (ehemals Guardian), der mit dem zweiten Whistleblower, „Alex“, gesprochen hatte.
In diese Diskussion griff auch das Recherchenetzwerk Bellingcat im November ein und verteidigte die Integrität der Arbeiten in der OPCW. Allerdings stimmen die Behauptungen von Bellingcat nicht mit den inzwischen verfügbaren Originaldokumenten aus der OPCW überein.
Die allermeisten Medien griffen die jüngsten Wikileaks-Veröffentlichungen nicht auf. Das ist sehr eigenartig und wirft viele Fragen auf. Dem CIA-„Whistleblower“, der das Impeachment gegen Trump lostrat, wurde eine breite öffentliche Bühne gegeben. Warum aber nicht den OPCW-Whistleblowern? Was ist von dem Video des mutmaßlichen Anschlags zu halten? Es wurde von Medien wie Politikern für bare Münze genommen, schon weil die „Weißhelme“ westlich Unterstützung genießen.
Schlimmer noch, falls der Giftgasanschlag in Douma nicht so, wie behauptet, stattgefunden haben sollte, dann zerfällt die hauchdünne Rechtfertigung des „Vergeltungsschlags“ der USA, Großbritanniens und Frankreichs vollends. Oder hat Trump damals durch ein paar „symbolische“ Bomben einen vollen Kriegseinsatz gegen Syrien vermieden, in den die USA gelockt werden sollten? So jedenfalls lautete die Erklärung von Tucker Carlson.
Das interne Geschehen in der OPCW, das dokumentiert ist, verlangt Aufklärung. Zumal niemand die Echtheit der geleakten Dokumente bezweifelt.
Glaubt man „Alex“, der den OPCW-Bericht als „wissenschaftlich armselig, verfahrenswidrig und möglicherweise betrügerisch“ einschätzte, gab es eine politische Intervention, zu welchem Ergebnis die OPCW offiziell kommen sollte. Deswegen sind die Whistleblower aufgetaucht, weil sie die internationale Autorität der OPCW als objektive Sachwalterin einer chemiewaffenfreien Welt zu bewahren suchen.
Man kann natürlich das Grabtuch des Schweigens über allem ausbreiten. Man kann so tun, als gäbe es nichts mehr zu Douma zu recherchieren, nichts bei der OPCW zu hinterfragen. Man kann die OPCW-Whistleblower und die wenigen Kollegen, die darüber überhaupt berichteten, gnadenlos im Regen stehen lassen.
Schlagwörter: chemischen Waffen, Douma, OPCW, Petra Erler, Syrien