23. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2020

Theater mit Zettel im Schuh

von Reinhard Wengierek

Was für Rollen: Sie war Michael Grübers Iphigenie, Peter Zadeks Hamlet und Robert Wilsons Lulu. Und als Katharina Blum in Volker Schlöndorffs Böll-Verfilmung wurde Angela Winkler zu einem der unvergesslichen Gesichter des Neuen Deutschen Films, was ihr übrigens, 1975, schlimme Beschimpfungen per Post und „sogar nach Hause“ einbrachte („Kommunistensau“, „Terroristin“). Vier Jahre später war sie, wieder bei Schlöndorff, in dessen Grass-Verfilmung „Die Blechtrommel“ die sanfte schöne, ach so umtriebige Frau Mama vom kleinen Trommler Oskar Matzerath. Und erst kürzlich sah man sie – ganz anders   im Fernsehen in einem Film über deutsch-deutsche Vergangenheiten als eine verbitterte Altstalinistin. Angela Winkler hat in vielen auch internationalen Filmen mitgewirkt; zuletzt 2018 zusammen mit Ingrid Caven und Tilda Swinton in Luca Guadagnios Neuverfilmung des Horror-Klassikers „Suspira“. Doch das ihr eigentlich nahestehende Genre sei gerade nicht der Film, denn da habe man doch wenig Einfluss aufs Ganze, das brächten letztlich andere zustande. Vielmehr sei ihr das Theater wichtig. „Lebenswichtig“.

Das erfährt man aus Winklers just erschienenem Erinnerungsbuch mit dem romantisch verträumten Titel „Mein blaues Zimmer“. Die zweihundert Seiten sind jedoch keine Memoiren im engeren Sinn, sondern mithilfe der Dramaturgin Brigitte Landes sensibel zusammengestellte autobiographische Skizzen: Erinnerungen an draußen und drinnen, also vor und hinter dem Vorhang, vermischt mit Zitaten aus der Masse jener Schulhefte, in die Angela seit vielen Jahren tagebuchartig Reflexionen schreibt – aber auch die Texte all ihrer Rollen, um sie sich über die Handschrift besonders zu eigen zu machen. „Wenn ich auf meine Arbeiten, meine Rollen zurückschaue, bleibt mir vom Leben in dieser Zeit viel mehr in Erinnerung, wo und wie wir in der Zeit lebten, wie groß die Kinder waren, welches Haus, welcher Garten …“

Angela Winkler wurde 1944 im uckermärkischen Templin geboren. Die mütterlicherseits musisch inspirierte Familie floh nach Hamburg, später Umzug nach Erlangen, wo der Vater zum Amtsarzt avancierte und sehr dagegen war, dass die Tochter in Stuttgart und München Schauspielunterricht nahm. Ihre ersten Engagements waren in Kassel und Castrop-Rauxel. Dann, 1971, Berlin-Schaubühne.

Sie war es, die ans aufrührerische Hallesche Ufer wollte, und nach einigem Hin und Her war auch Peter Stein dafür. Er schrieb brieflich: „Wir wollen gute Kommunisten sein.“ Doch Winklers Herzensregisseur wurde nicht Stein, das kam vielmehr dem introvertiert versponnenen Klaus Michael Grüber zu. „Bei ihm fühlte ich mich sofort aufgehoben und musste gar nicht spielen. Ich konnte endlos lange Pausen machen, ohne dass er mich gestört hat. In den Aufführungen ist eine Ruhe, in der alles möglich ist; alles kann neu aufgebrochen werden, weil vorher nichts behauptet worden ist. Er hat uns die Schutzhüllen, unsere Verlogenheiten und Schwindeleien, die wir uns mit der Zeit so aneignen, weggenommen … ‚Sei einfach und stolz‘ hat er mir auf einen kleinen Zettel geschrieben. Den steckte ich mir bei jeder Aufführung in meinen Schuh.“

Viel später erst kam sie zu Peter Zadek, der neben Grüber ihr wichtigster Regisseur wurde. 1999 zu den Wiener Festwochen besetzte er sie als Hamlet: schlank und rank, schwarzes, schulterlanges Haar, tiefrot samtener Hosenanzug mit Stiefelchen und Dolch am schmalen Gürtel. Es wurde ein Riesenerfolg, freilich geboren unter großen Ängsten und schweren Selbstzweifeln, Ausbrüchen, Fluchten, wovon wir im Publikum natürlich nichts ahnten. Jetzt schrieb sie darüber in ihrem kleinen, unprätentiös wahrhaftigen Buch.

Der Erfolg ist der großen, mit Auszeichnungen überhäuften Schauspielerin nie in den Schoß gefallen. Sie hat ihn sich immer hart erarbeitet; schon aus Respekt vor der Kunst, den Leuten, vor sich selbst. „Die Entscheidung, Theater zu spielen, fällt mir nie leicht. Ich nehme es so ernst wie mein Leben.“ Das mag einer der Gründe sein, weshalb sich Angela Winkler nie fest an ein Theater band, so sehr sie dort auch umworben (und gefeiert) wurde. „Ich will nicht fest in einem Ensemble sein, aber ich brauche Partner. Ich muss jemandem zuhören können. Wenn ich jemandem zuhören kann, kann ich auch mit ihm spielen. Wenn ich seine Art zu denken und zu sprechen nicht verstehe, fällt es mir schwer, und ich will es auch nicht. Die Kunst von Zadek und Grüber bestand auch darin, ein Ensemble zu bilden, Schauspieler zu suchen, die miteinander spielen konnten und ich mit ihnen.“

Die Winkler muss beides haben: die Arbeit mit der Kunst und die mit dem Leben. Mit der Familie, dem Bildhauer Wigand Wittig und den vier Kindern. „Alle sieben Jahre sind wir umgezogen, haben zusammen alte, verfallene Häuser aufgebaut, und kaum waren sie fertig, sind wir weitergezogen.“ Das Bodenständige, das Häuslich-Praktische, das Bauen und Gärtnern „ohne Arbeitshandschuhe“ als den Kopf, das Herz und die Seele frei machender Kontrast zum Geistigen. Und dann mit Auto oder Flugzeug von der Scholle direkt ins Schauspielhaus der großen Stadt, wie auch immer die heißt. – „Ich brauche den frischen Wind, um im Theater zu arbeiten. Bin kein Stadtmensch und komme bloß nach Berlin, wenn ich hier arbeite. Seit ich Kinder habe, haben wir auf dem Land gelebt …“ – in Ligurien, in der Auvergne, Bretagne oder auf Krautsand, einer Insel in der Elbe.

Angela Winkler mit Brigitte Landes: Mein blaues Zimmer. Autobiographische Skizzen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 228 Seiten, 22,00 Euro.