23. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2020

Moderne „Konterrevolution“ – eine liberale Ansicht

von Herbert Bertsch

Begriffe, Definitionen genießen keinerlei Patentschutz, was deren ungehinderten Gebrauch bis zum inhaltlichen Gegenteil auch juristisch ermöglicht und allenfalls mit empörtem Nasenvibrieren geahndet werden kann, sofern Fehlgebrauch gewittert. So würde man das Begriffspaar „Revolution – Konterrevolution“ üblicherweise bei grundlegenden gesellschaftlichen Systemauseinandersetzungen verorten; Zuordnungen und Verwendungen innerhalb der Gesellschaftssysteme haben anderes Vokabular, aber auch dies ohne Ausschließlichkeit. Missverständnisse und bewusste Irrungen eingeschlossen; zudem immer in der Gefahr, vom Konsumenten in seiner Verfasstheit anders verstanden zu werden. Wer denkt, darüber redet oder schreibt, bleibt dem lebenslänglich ausgesetzt.

Wer möglicherweise auf dem weihnachtlichen Büchertisch oder sonst wo diesen Bucheinband sieht: hochgereckte geballte Faust in züngelnder Flamme, auf dunklem Untergrund, dazu in Versalien „KONTER-REVOLUTION“ – der vermutet wohl nicht sofort, dass es hier um den zu beklagenden „Rückzug des liberalen Europa“ geht. Wie also gelangt der Begriff zu diesem Sachverhalt – oder auch umgekehrt. Üblicher Weise kommt vor Konterrevolution erst noch die Revolution. Welche „historischen“ werden abgehandelt – oder kriegen wir es mit einer Neuigkeit zu tun?

Vor Aufklärung durch das Werk empfiehlt sich die Vorstellung von Autor und dessen „Machart“: die literarische Form des Briefes, hier eines etablierten Theoretikers und auch gern politischen Praktikers an sein Leit- und Vorbild Lord Ralf Dahrendorf. Inhalt: ein Bericht darüber, was aus dessen Idee von der „liberalen Revolution“ geworden ist. Autor ist Jan Zielonka, in Polen geborener Politikwissenschaftler mit niederländischem Pass, Wohnsitz in Italien, Professur für Europäischen Politik in Oxford. Also das Muster für einen hauptberuflichen Europäer, wenn nicht gar Weltbürger. In Nachfolge seines 2009 verstorbenen Mentors, dessen geistiger Fußstapfen er sich auch im Formalen bedient.

Denn Dahrendorf hatte 1990 ebenfalls die Briefform genutzt, um seine „Betrachtungen über die Revolution in Europa“ zu verkünden. In Deutschland wurde davon nicht recht Kenntnis genommen, wenngleich Politikwissenschaftler und nicht mehr im aktiven Dienst befindliche westdeutsche Persönlichkeiten den Bezug auf Dahrendorf wie ein Mantra bei sich führten. Dahrendorf analysierte die neue Lage nach 1989 und schrieb auf, was man und wie bei der Behandlung der befreiten Osteuropäer tun müsse, um künftige Konflikte zu vermeiden und ein mängelfreies Europa zu etablieren, nachdem die vermutete Wurzel allen Übels nun beseitigt ist. Ein besonderer Aspekt schien ihm dabei das Schicksal derer, die die Wende auch ganz persönlich als Niederlage empfinden mussten. Seine empfehlende Überlegung dazu war, diese Kräfte möglichst in die neuen gesellschaftlichen Bedingungen einzufügen statt mit Rundumschlägen zu eliminieren.

In dieser Hinsicht unterschied und unterscheidet sich die Situation in Deutschland grundlegend von der in den anderen Ostblockstaaten. Die Staatsmacht wurde hier politisch von der BRD-Administration übernommen, die Wirtschaft fast in Gänze von bundesdeutschen Unternehmen und Verbänden; wenn das zu schwer zu verdauen war, kam die Vernetzung mit ausländischen Partnern zum Zuge. Man brauchte und wollte kein DDR-Personal auf Entscheidungsebene, wohl aber zum Abräumen „im Namen des Volkes“.

In den anderen Ländern, in Umfang und Ausmaß allem übergeordnet die auf die Russische Föderation geschrumpfte Sowjetunion, kam es zu einer Verflechtung der bisherigen Nomenklatura mit den wenigen eigenen Oppositionellen und ganz stark mit Mächtigen aus anderen Staaten; vornehmlich der EU, was bekanntlich rasch zu deren Erweiterung führte. Diese Art des „Übergangs“ hatte den Vorzug, weitgehend gewaltlos zu erfolgen. Die „Befreiung“, die neuen inneren Strukturen und die Art der Außenbeziehungen sollten nach Dahrendorf auf der Basis liberaler Werte und politischer Praktiken erfolgen, die zugleich in den westlichen Ländern Fehlentwicklungen ausgleichen müssten.

Dreißig Jahre danach, muss Zielonka eine verheerende Bilanz melden. Kernthese: Was derzeit allgemein verkündet und betrieben wird, ist kein Liberalismus geworden. Dazu gehört auch der Etikettenschwindel, den „Verrat“ dieser Ideale als neuen „Liberalismus“ auszugeben, als Charakteristik der gegenwärtigen Epoche der Gesellschaft. Mit besonders krassen Auswirkungen in den post-kommunistischen Gesellschaften, deren Enttäuschung sich vermutlich irreparabel in Verweigerungshaltung und nationaler Abkehr vom versprochenen Ziel des „Wohlstand für Alle“ vermittels der EU realisiert. Wer profitierte davon? War die „Befreiung des Volkes“ vom „Joch des Kommunismus“ überhaupt das eigentliche Ziel der westlichen Bemühungen und ihrer materielle Beihilfen für die innere Opposition?

Ist „Liberalismus“ auch nur in Grundwerten überhaupt noch eine eigenständige gesellschaftliche Konzeption, oder dient der Begriff nur als verschleiernde Umschreibung für ordinären Kapitalismus in allen gesellschaftlichen Bereichen? Was hier rhetorisch als Frage steht, wird von Zielonka weitgehend bestätigt: „Ralf Dahrendorf versuchte, die liberale Revolution zu verstehen, die nach dem Fall der Berliner Mauer in Osteuropa in Gang kam. Der Liberalismus schien sich durchgesetzt zu haben: von London, Berlin und Athen bis nach Bukarest, Warschau und Tallinn. Jetzt beobachten wir eine gegenteilige Entwicklung. Der Liberalismus wird auf dem gesamten Kontinent in Frage gestellt. Ich bezeichne diese Entwicklung als antiliberale Konterrevolution.“ So erklärt sich der Buchtitel.

Wichtiger aber die inhaltliche Erklärung der „Konterrevolution“, weil das bei der Auseinandersetzung mit den sogenannten „Rechten“ von Bedeutung ist. Wie kommt es eigentlich zu deren Erfolgen, auch in Deutschland? Sind es bei der AfD wirklich so tolle Typen mit Programmen und einer auch basisdemokratischen Politik, mit dem Anspruch, die real existierende Misere aufzulösen? Die Antwort scheint eindeutig einfach. Wenn es aber nicht die selbst verkündete und erwartete Qualität der vermeintlichen Heilsbringer ist, muss es einen anderen Hauptgrund für deren Erfolge geben. Und das sind die miesen Verhältnisse, aus denen ihr Erfolg sich speist, national und international; unabhängig davon, ob Mitte-rechts oder Mitte-links regiert. Wer das begreift, kann sich in der Bekämpfung der „Rechten“ nicht verbal erschöpfen und deren Wirksamkeit beklagen. Höchste Zeit, sich und die derzeit vorherrschende Politik in der „liberalen Demokratie“ – bei dieser Definition haben wir die übliche Verschleierung! – zu ändern. Das wäre logisch die Möglichkeit zur Auflösung des Dilemmas mit den „Rechten“.

Zielonka: „Rechtspopulisten sind an vielem Schuld, aber bis vor kurzem waren sie in keinem europäischen Land an der Regierung. Ebenso wenig kann man ihnen die Ungleichheiten, Steueroasen und das Versagen der Regierungsführung in den letzten drei Jahrzehnten vorwerfen. Heute gedeiht der Populismus, weil Liberale eine falsche Wirtschafts-, Migrations- und Außenpolitik betrieben und das Vertrauen der Bürger verloren haben, die sie viele Jahrzehnte lang gewählt haben. Für das aktuelle Chaos in der EU kann man nicht die Populisten verantwortlich machen. Schließlich wird die EU von liberalen Politikern wie Macron und Merkel geführt, mit ein wenig Hilfe von Juncker, Tusk und Tajani.“

Das sind Hinweise, die auch bei der Auseinandersetzung in Deutschland des Nachdenkens wert sind, wenn Kritiker unterschiedlicher Provenienz große Gemeinsamkeit gegen die AfD bezeugen und sich so gerieren, als ob es wirklich deckungsgleiche Interessen und Ziele „aller Demokraten“ gibt. Dass alles „gut“ würde, könnte man die Wähler der AfD „zurückführen“.

Ja, aber wohin und mit welchem neuerlichen Ergebnis, wenn es die alten Verhältnisse werden sollen? Wann und wie käme dann der nächste Ausbruch? Nochmals der Autor: „Ich bin enttäuscht, wenn nicht gar wütend, daß die Post-1989-Generation von Politikern und Intellektuellen in Europa liberale Ideale gefährdet und verraten hat. Die Konterrevolution wird sich nicht damit begnügen, Fehler der Liberalen zu korrigieren, sondern darüber hinaus viele Institutionen zerstören, ohne die eine Demokratie nicht existieren kann.“ Das sagt nicht jemand vom linken Rand, sondern aus der Mitte der Herrschenden. Das sollte man bewusst so zur Kenntnis nehmen, auch bei Zweifel, ob der Liberalismus jemals die Kraft gewinnt, sich aus der unbefriedigenden gesellschaftlichen Realität herauszuwinden. Diese Absage an Illusionen mit schonungsloser Selbstkritik mag dazu beitragen: „Aber Liberale haben sich im Fingerzeigen auf andere als besser erwiesen als in der Selbstreflexion. Sie verwenden mehr Zeit darauf, den Aufstieg des Populismus als den Niedergang des Liberalismus zu erklären.“

Die englischsprachige Originalausgabe des Werkes erschien 2018. Im Februar 2019 brachte der Campus Verlag eine deutsche Ausgabe, deren Aktualität sich bestätigt und in diesem Themenbereich zur Standard-Literatur gehört; trotz ihrer vorrangig praktisch-politischen Orientierung auch als Beitrag zur Liberalismus-Forschung in Deutschland.

Jan Zielonka: KONTERREVOLUTION – Der Rückzug des liberalen Europa. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2019, 206 Seiten, 19,95 Euro.