23. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2020

Leipziger Nachkriegsfotos und Bilder aus Ost-Berlin

von Manfred Orlick

Der gebürtige Leipziger Karl Heinz Mai wurde als 20jähriger Kaufmannsgehilfe 1940 zum Wehrdienst einberufen. Bereits im Mai 1941 erlitt er eine schwere Verwundung, die zur Amputation beider Beine führte. Mit dieser schweren Behinderung war nach Kriegsende an einen beruflichen Neuanfang im erlernten Beruf nicht zu denken. Neue Perspektiven eröffnete ihm die Fotografie. Bereits 1943 hatte er sich eine Kleinbildkamera gekauft.
Damit ging der kriegsversehrte Mai, wann immer Gelegenheit war, in seiner Heimatstadt auf Entdeckungstour. Aufgrund seines körperlichen Handicaps konnte er keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, so diente ihm zur Fortbewegung ein dreirädriger Spezialrollstuhl. Stets war er auf der Suche nach neuen Motiven, wobei sich durch den tieferen Kamerastandpunkt zwangsläufig andere, interessante Blickwinkel ergaben – als würde er die Stadt in der Höhe von Kinderaugen sehen. Anfangs waren es meist spontane Privataufnahmen, nur selten konnte er etwas verkaufen. Ab Mitte der 1950er Jahre entstanden dann zahlreiche Auftragsarbeiten für das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig, das Stadtarchiv Leipzig, das Sächsische Landesamt für Denkmalpflege oder das Leipziger Messeamt. Zeitungen, Verlage und kirchliche Einrichtungen gehörten jetzt auch zu seinen Abnehmern. Am 9. Mai 1964 starb Karl Heinz Mai im Alter von nur 44 Jahren. Da umfasste sein Lebenswerk über 20.000 Aufnahmen, von denen sich ein Teil in den bedeutendsten fotografischen Sammlungen Sachsens befindet.

Zu Lebzeiten hatte Mai nie eine Würdigung erfahren. Erst Anfang der 1980er Jahre konnte sein Sohn eine Ausstellung in einer Leipziger Galerie realisieren und 1986 erschien ein bescheidener Bildband im Westberliner Nishen-Verlag. Nun hat der Leipziger Lehmstedt Verlag zum bevorstehenden 100. Geburtstag (28. Februar 2020) von Karl Heinz Mai mit dem Bildband „Reporter auf drei Rädern“ eine repräsentative Auswahl seiner Fotos herausgebracht, die chronologisch in thematische Kapitel unterteilt sind. Unter der Überschrift „Sieger und Besiegte“ sind zum Beispiel frühe Aufnahmen von Heimkehrern, Kriegsinvaliden, Flüchtlingen und hoch dekorierten Sowjetsoldaten versammelt. Vielleicht wirkte Mai mit seinem dreirädrigen Gefährt derart harmlos, dass ihm solche gewagten Fotos gelangen. Ein mutiges Unterfangen war es sicher auch, die Demontage von Gleis- und Industrieanlagen als Reparation an die Sowjetunion zu dokumentieren.

Das zerstörte Stadtbild und das Leben in den Trümmern gehörten jedoch zu den häufigsten Motiven von Karl Heinz Mai. Wer kann sich heute noch etwas unter Trümmerfrauen oder Hamsterfahrten vorstellen? Gemüsegärten auf Trümmerbergen, Sammeln von Brennholz oder Umzug mit einem Pferdewagen? Ebenso sind Kinder in der Stadt ein durchgängiges Motiv über all die Jahre – vom gesprengten Luftschutzbunker als Abenteuerspielplatz über die Läusekontrolle durch die Großmutter bis zum ersten Puppenwagen 1955.

In den 1950er Jahren bot die rege Bautätigkeit dem Fotografen ein neues Aufgabengebiet. Jede Leipziger Großbaustelle bis zu den ersten Plattenbauten hat er mit seiner Kamera besucht. Auch das „Messetreiben“ wurde mehrfach festgehalten. Dazwischen aber immer wieder Familienfotos (Weihnachtsfeier oder Sonntagsspaziergang) vom Leipziger Alltag. Die Fotografien von Karl Heinz Mai dokumentieren aber nicht nur die beiden Jahrzehnte nach 1945 in Leipzig; sie sind anschauliche und aussagekräftige Zeugnisse der deutschen Alltagsgeschichte in der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Karl Heinz Mai: Reporter auf drei Rädern – Fotografien 1945–1964, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2019, 160 Seiten, 24,00 Euro.

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Daniela Dahn hatte sich Mitte der 1980er Jahre zu ihrer „Prenzlauer Berg-Tour“ aufgemacht. Ihre Erkundungen erschienen dann im Berliner Jubeljahr 1987 im Mitteldeutschen Verlag. Das Buch, unter anderem mit zahlreichen ungeschminkten Aufnahmen, vermittelte ein gänzlich anderes Bild von der „Hauptstadt der DDR“ als die erschienenen Jubiläumsbände. Es wurde bei den DDR-Lesern ein großer Erfolg – die drei Auflagen von insgesamt 40.000 Exemplaren waren fast über Nacht vergriffen. Inzwischen ist die „Prenzlauer Berg-Tour“ ein Kultbuch.

Eine ähnliche Resonanz hatte die Fotoserie „Diva in Grau“ von Helga Paris, die die grauen Straßenschluchten und zerfallenen Häuser der Altstadt von Halle zeigte. Der Bildband konnte jedoch erst 1991 erscheinen – ebenfalls im mdv, der 2013 auch den Bildband „Entschwundene Stadt“ mit Berlin-Fotos aus den 1980er Jahren von Robert Paris (Sohn von Helga Paris) herausbrachte.

Mit „Bunt und Grau – Ost-Berlin 1980 bis 1983“ nun ein weiterer mdv-Bildband mit Berlin-Fotos aus dem letzten Jahrzehnt der „Hauptstadt der DDR“. Der junge Fotograf Wendelin Bottländer (Jahrgang 1959), der aus dem Rheinland stammte, unternahm Anfang der 1980er Jahre im Auftrag des FAZ-Magazins Fotostreifzüge durch Ost-Berlin. Ungefähr achtmal besuchte er mit einem Tagesvisum den östlichen Teil der Spree-Metropole. Ohne festen Plan, vollkommen unbelastet fotografierte er mit Vorliebe Stadtlandschaften – Altbauviertel in Köpenick, Karlshorst, Pankow und Prenzlauer Berg. Trotz Farbfotos wirken die maroden Häuserfassaden grau und hoffnungslos. Fast möchte man annehmen: Farbfotos ohne Farbe, wobei natürlich ein Verblassen der Fotoemulsion berücksichtigt werden muss.

In den Neubauvierteln von Friedrichsfelde und Marzahn war Bottländer ebenfalls unterwegs, wo er auch die Gelegenheit hatte, Wohnungseinrichtungen mit den obligaten Schrankwänden oder den Blick in einen Kühlschrank festzuhalten. Nur um das „sozialistische Stadtzentrum“ am Alex und Unter den Linden machte er stets einen Bogen. Dagegen interessierte sich der mit der westlichen Konsumwelt vertraute Fotograf immer wieder für Kaufhallen und Geschäfte mit ihrem oft eintönigen Sortiment – von der Tütensuppe über das Musterangebot an Tapeten bis hin zu den Zeitschriftenauslagen.

Abgesehen von einigen Aufnahmen (zum Beispiel Tramper an der Tankstelle Grünauer Straße oder die Warteschlange vor einer Marzahner HO-Kaufhalle) findet man Menschen eher selten auf den Fotos. Der Kulturhistoriker Bernd Lindner nennt dafür in seinem Nachwort zwei Gründe: „Einer liegt in der Fotoästhetik der ‘Düsseldorfer Photoschule’ begründet, wo Bottländer drei Semester studiert hatte. Der andere Grund lag sicherlich in der permanenten Vorsicht, als neugieriger Westdeutscher nicht aufzufallen.“ Trotzdem wagte es Bottländer, bei einer Rückfahrt mit der S-Bahn gen Westen einige Fotos von den Grenzanlagen zu schießen. Ein jugendlicher, aber sicherlich sträflicher Leichtsinn.

Zu der geplanten FAZ-Veröffentlichung kam es letztendlich nicht, wahrscheinlich waren die Aufnahmen zu unspektakulär. Trotzdem blieben die rund 370 Kleinbilddias bis heute erhalten und eine Auswahl wird hier erstmals veröffentlicht. Momentaufnahmen einer Stadt, die nach dreißig Jahren wie entschwunden scheint. Außer in den Erinnerungen.

Wendelin Bottländer: Bunt und Grau – Ost-Berlin 1980 bis 1983, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2019, 128 Seiten, 18,00 Euro.