23. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2020

Kosovo – abgeschrieben?

von Detlef D. Pries

„Nein, kein Krieg lässt sich wie schmutzige Stiefel
vor der Wohnungstür abstellen,
sein Dreck, seine Härte dringen in die Menschen,
in die Beziehungen, in die Gesellschaften …“
Marlen Schachinger

Außenminister Behqiet Pacolli hat Kosovo jüngst wieder einmal ins Gespräch gebracht, als er sich der Hatz gegen den frisch gekürten österreichischen Nobelpreisträger Peter Handke anschloss und den vermeintlichen „Völkermord-Leugner“ zur persona non grata in Pristina und Umgebung erklärte. Warum? Handke hatte sich stets vehement gegen die vorherrschende Einseitigkeit bei der Einordnung von Tätern und Opfern nach den blutigen Kriegen um die Auflösung Jugoslawiens gewandt. Seine jüngere Landsfrau Marlen Schachinger gesteht nach dem Besuch einer Fotoausstellung über den „von Serben betriebenen Genozid“ in Pristina zwar auch, dass ihr die „Darstellungen tendenziös oder zumindest stereotyp und unbelegt“ erschienen und dass „jedweder Hinweis auf eine zusätzliche Täterschaft der UÇK-Kämpfer“ fehle. Allerdings verschwieg Schachinger diesen Eindruck ihren Gastgebern. Denn im Unterschied zu ihrem Landsmann Peter Handke war sie 2018 für einen Monat gleichsam persona grata in Kosovo – als „Writer in Residence“ in Pristina.

Schlagzeilen macht das Land kaum noch, das 2008 als Republik Kosovo seine Unabhängigkeit ausgerufen hat und von der guten Hälfte der UNO-Mitgliedstaaten auch als unabhängig anerkannt wird – ungeachtet fortdauernder Gültigkeit der 1999 vom Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution 1244, die Serbiens (Rechtsnachfolger der Bundesrepublik Jugoslawien) territoriale Unversehrtheit garantierte. Laut Wikipedia gilt Kosovo inzwischen als „stabilisiertes De-facto-Regime“. Im öffentlichen Gedächtnis dagegen haben sich Zuschreibungen wie „instabil, korrupt, ineffizient“, zumindest aber „umstritten“ festgehakt, ohne dass davon noch viel Aufhebens gemacht würde. Kosovo scheint derzeit von den Medien fast vergessen – „abgeschrieben“ eben.

Marlen Schachinger aber hat ihrem Buch den Titel „Kosovarische Korrekturen“ gegeben, woraus zu schließen wäre, dass sie das verbreitete Image des südosteuropäischen Landstrichs und seiner knapp 2 Millionen Bewohner korrigieren wolle.

Das ist ein schwieriges Unterfangen von vornherein. Wer wollte behaupten, ein fremdes Land innerhalb eines Monats so gut kennengelernt zu haben, dass er es wahrhaftig beschreiben könnte? Zumal, wenn er oder sie der Landessprache nicht mächtig ist. Schachinger, die in ihrer Heimat bisher Kurzgeschichten, Romane, Hörstücke, Lyrik, aber auch Sachbücher veröffentlicht hat und Literarisches Schreiben unterrichtet, versucht diese Klippen zu umschiffen, indem sie sich Rat und Zitat von ausländischen Kosovo-Kennern holt und deren Erkenntnisse mit eigenen Beobachtungen verwebt. Dazu – und das ist der bedeutendere Part – gibt sie ihre Gespräche mit Einheimischen wieder, wobei es sich notgedrungen vor allem um deutsch- oder englischsprachige Intellektuelle handelt. Was sie von denen erfährt, bleibt meist deprimierend: Menschen, die einst für ein freies Kosovo gestritten und gelitten haben, wünschen sich heute nichts sehnlicher, als diesen Staat möglichst schnell zu verlassen. Zwar findet die Autorin in Pristina kaum noch augenscheinliche Spuren des Krieges, doch „alles in diesem Land ist Tünche“, zitiert sie eine ihrer Gesprächspartnerinnen, und „seit die sogenannten Befreier an der Regierungsmacht beteiligt seien, sei Korruption mehr denn je ein Thema“. Wer die ehemaligen UÇK-Kämpfer deswegen an den Pranger stellen wolle, riskiere (zu) viel. Bezeichnend daher, dass kaum eine derer, die sich der Autorin anvertrauen, mit ihrem Namen genannt werden will, denn – so entdeckt Schachinger – wer in Kosovo eine Familie zu ernähren hat, schweigt besser zu den politischen Verhältnissen.

Klagen über eine verheerende Arbeitslosigkeit, eine ins Nichts führende Bildungspolitik, ein miserables Gesundheitswesen, über UNO- und EU-Missionen, die manches Übel eher verschärften als es zu beseitigen, die Prostitution beispielsweise, und über geistige Enge – wen wundert’s angesichts dessen, dass Menschen in ihrer Ausweglosigkeit die Hoffnung auf Besserung verlieren. Da kann es kein Trost und keine Ermutigung sein, wenn die Autorin ihren Blick über die Grenzen Kosovos hinaus weitet und feststellt: „Das Bemühen der Mächtigen, die Ohnmächtigen umfassend mit ihrer Ohnmacht zu beschäftigen, hat allerorts System.“
Überhaupt „Grenzen“: Als der kosovarische Präsident Hashim Thaçi und Serbiens Staatsoberhaupt Aleksandar Vučić vor einiger Zeit anregten, ihren Konflikt durch eine Grenz-„Korrektur“ zu entspannen, rief das nicht nur in Kosovo, sondern auch bei dessen europäischen Paten heftige Reaktionen hervor. Die Idee wurde denn auch schnell begraben, der Hass lebt fort, nichts da mit „Korrekturen“.

Marlen Schachinger hat ihr Buch übrigens „durchgegendert“ bis zu den „Schrotthändler*innen“ (einzig „Verleger“ scheint es nur in männlicher Gestalt zu geben) und sich aus ungenannten Gründen für „der Kosovo“ entschieden. Dass sie auf die Übersetzung selbst halbseitiger englischsprachiger Zitate verzichtet, will nicht so recht zu einer literarischen Reportage mit essayistischen Zügen passen. Aber es geht hier ja nicht vorrangig um die Sprache. Trotz aller Be- und Einschränkungen: Lesenswert ist dieser „Versuch über die Wahrheit des Landes“ allemal – als eine erhellende, wenngleich gewiss nicht vollständige Bestandsaufnahme rund zehn Jahre nach der Ausrufung der Republik.

Marlen Schachinger: Kosovarische Korrekturen. Promedia, Wien 2019. 160 Seiten, 17,90 Euro.