22. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2019

Faszinierend: Die Perser in Bremerhaven

von Odile Popescu

Das piccolo teatro Haventheater in der Nordseestadt ist eine der kleinsten Bühnen Deutschlands. Vor zehn Jahren als Boulevardtheater mit maximal 56 Plätzen gegründet und als solches erfolgreich, hat es seit kurzem einen neuen Besitzer und Leiter, Daniel Meyer-Dinkgräfe, der für Jahrzehnte als Theaterwissenschaftler in Wales und England gelehrt und geforscht hat. Sein Schritt, „die Theorie gegen die Praxis einzutauschen“, ist nicht nur bewundernswert angesichts der „Mühen der Ebenen“, die ein solches Tun beschwerlich machen, sondern von strategischer Bedeutung für eine Theaterarbeit außerhalb der Stadttheaterstrukturen. Der Start der ersten Spielzeit mit Aischylos’ „Die Perser“ in einer Inszenierung von Heinz-Uwe Haus ist wohl durchaus als ästhetischer Wegweiser für die Zukunft des piccolo teatro zu verstehen.
Aischylos‘ Tragödie, uraufgeführt 472 vor Christus, ist das älteste abendländische Theaterstück, das wir kennen. Auch ist es hochaktuell in seinem Anliegen: es feiert die menschliche Gabe des Einfühlens. Das Stück ist ein Bericht, eine Wehklage über das Elend des Krieges. Berichtet wird vom fürchterlichen Unterfangen des Perserkönigs Xerxes, die Niederlage seines Vaters bei Marathon zu rächen und sich durch einen Vernichtungskrieg Griechenland und Athen zu unterwerfen. Doch bei Salamis verliert er stattdessen die Schlacht auf See. Eine List der Griechen bringt ihn zu Fall. Kaum einer seiner Gefolgsleute überlebt, sein gewaltiges Heer versinkt in den Fluten, Ungezählte werden an Land gespült. Aischylos, der selbst am Krieg teilgenommen hat, lässt acht Jahre nach dem Sieg über die Eroberer das Athener Publikum die Schmach seiner Totfeinde nachempfinden.
Er will die Athener wappnen gegen zahllose Anfechtungen des Siegers – die des Stolzes, der Schadenfreude, des Übermuts, der maßlosen Selbstüberhebung („Hybris“). Vor allem aber stellt er die richtigen Fragen zur Zeit: Despotie oder Demokratie? Tyrannenherrschaft oder Volksabstimmung? Freiheit oder Unterwerfung? Klar wird, was in der Schlacht bei Salamis auf dem Spiel stand.
Aischylos stellt die Unsinnigkeit jeglichen Krieges, der den Menschen außer Schrecken, Verzweiflung, Tod und Trauer nie etwas bringt, aus der Perspektive der vernichtend geschlagenen Perser unter Xerxes dar – ohne sich dabei über die Niederlage des Gegners in Hochmut zu erheben. Weder glorifiziert er den Sieger noch schmäht er den Verlierer. Er erhebt Klage über die latente Unmenschlichkeit in Kriegen. Jede Zeile warnt: bringt euch nicht in die Lage, in der eure Feinde sind. Alles zielt auf einen Punkt: das ewig unbegriffene Leiden. „Niemals starben an einem Tag so viele Menschen in so kurzer Zeit“, berichtet der Bote seiner Herrscherin, Atossa, der Mutter des Königs. In goldenem Kleid hört sie die Schreckensmeldung als ginge es sie nichts an.
Haus hat diese Ur-Tragödie – trotz einer fast nicht vorhandenen Infrastruktur des kleinen Theaters – meisterhaft in Szene gesetzt. Mit einfachsten Mitteln – weißem Tuch – bezieht er den halben Zuschauerraum ein, so dass das Publikum mitten ins Geschehen gerückt wird. Die Kostüme und Requisiten haben sozialen Gestus und zitieren fremde „persische“ Ferne. Drei Tücher – je 2,80 mal 8,00 Meter – sind die hauptsächlichen Spielelemente, die Orte, Stimmungen und Geschehen assoziieren lassen. Es werden Bilder geschaffen, die sich einprägen: die Seeschlacht und der Untergang der Schiffe, der ruhige Fluss des Nils, die Brücke über den Hellespont, die Mordtaten der Invasoren, die glücklichen Sandkastenspiele der Kindheit …
Auch die Musik des griechischen Komponisten Michalis Christodoulides stimuliert die Vorstellungskraft, oft in hypnotischem Rhythmus. Zu erleben ist eine unglaublich intensive schauspielerische Arbeit, deren Energie den Zuschauer geradezu körperlich ergreift. Solche Begeisterung für das Chorische habe ich seit langem nicht gesehen. Welch phantastisches Unisono des Chores! Das einzigartige Zusammenwirken von Sprache, Szene, Rhythmus, Klang und Körpergefühl ist das Ergebnis der Arbeitsweise des Regisseurs, die auf kollektiver Phantasie und unbedingtem Zusammenspiel basiert. Das virtuose Darstellerquintett schafft in der 65 Minuten langen Aufführung eine ungemein zwingende Verdichtung der Vorgänge.
Britta Werksnis (Atossa), Andreas Brendel (Xerxes), David Gundlach (Bote) und Daniel Meyer-Dinkgräfe (Darios) sind das Ensemble, das Chor und Protagonisten gleichermaßen brillant darstellt. Sie setzen die großartige Sprache von Ayschilos (in der theaternahen Übersetzung von Dietrich Ebener) eindrucksvoll um. Ergänzt wird das Ensemble durch Darios’ Stimme aus dem Grab, die von dem zyprischen Schauspieler Neophytos Neophytou in Altgriechisch auf Band gesprochen ist.
Man kann sich der fesselnden Sprachmacht des Chores nicht entziehen. Mit anschwellenden Bocksgesängen, Wehklagen gegen Verderben und Verderber, Schilderungen des Kriegs-Horrors entfalten sie eine starke Wirkung. Die Emotionen steigern sich bis zur Katharsis. Haus, geübt im Umgang mit antiken wie auch expressionistischen Texten, schafft dabei oft verfremdende Diktionen, Pausen und Brüche im Sprechen.
Die Inszenierung vertraut der Kunst des Schauspielens, erzählt vom schmerzlichen Ringen um den aufrechten Gang. Das Publikum erlebt, wie aus der Tragödie der Glaube an die Kraft der Vernunft erwachsen kann. Ein solches Theater ist unerbittlich „voller Hoffnung auf die evolutionären Energien der Geschichte“ (Haus). Leicht, klipp und klar, von höchster Energie und voller Vertrauen in „große Gefühle und bildmächtige Geschichten“ (Haus). Alles in dieser Aufführung dient Aischylos’ Worten, die noch lange nachhallen:
Die Götter lieben die demütig Freien und lassen frevelhafte Tyrannen ins Verderben stürzen.
Zu Recht großer Jubel am Ende.

Odile Popescu, 1976 in Oran geboren, arbeitet als Zahnärztin in Berlin. Sie hat bisher Texte zu Literatur und Theater in ausländischen Zeitschriften veröffentlicht (so in Carmina Balcanica/Bukarest, Anef/Nicosia, Lumina Lina/New York).