22. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2019

Einer „der vollkommensten Naturforscher der Welt“

von Hans-Peter Götz

Der Mensch vergewaltigt die Natur.

Der Mensch hat drei Arten,
die Natur zu zerstören:
durch Rodung, künstliche Bewässerung
und durch die gasförmigen Dämpfe.

Alexander von Humboldt.
Notate in Mexiko, 1802

Alexander von Humboldt – am 14. September 2019 hat sich der Geburtstag des „größten Mann[s] seit der Sintflut“ (Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV.), der auch heute noch vielen als „zweiter Entdecker“ Amerikas gilt, zum 250. Male gejährt.
Es hätte wohl eines nicht unerheblichen Teils des ausgerufenen Jubeljahres bedurft, um alle aus dem nämlichen Anlass neu oder erneut editierte Bücher des Wissenschaftstitanen zu lesen. Von jenen über ihn gar nicht erst zu reden.
Die Titel sind Legion.
Unter letzteren wäre dann natürlich auch Andrea Wulfs „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ gewesen, ein Bestseller aus dem Jahre 2015 – das „vollkommenste Porträt eines der vollkommensten Naturforscher der Welt“ (The Spectator). Übersetzt in zahlreiche Sprachen bis hin zum Chinesischen und Koreanischen. Die Autorin – in Indien geboren, in Deutschland aufgewachsen und seit über 20 Jahren in England lebend – ist dafür weltweit mit Preisen und Auszeichnungen geradezu überhäuft worden.
Im Humboldt-Jahr hat Andrea Wulf allerdings gleich noch einmal nachgelegt und ebenfalls einen großen Wurf gelandet (nach Verlagsangaben bereits in 26 Sprachen übersetzt). Sie hat zugleich ihre Leser überrascht, indem sie – basierend auf Humboldts Reisetagebüchern – dessen Entdeckertour durch alle drei Amerikas,

  • zu der Humboldt am 5. Juni 1799 vom spanischen La Coruña aus mit der Fregatte „Pizarro“ sowie mit insgesamt 42 wissenschaftlichen Messinstrumenten (darunter Sextant, Fernrohr, Teleskop, Längenuhr, Barometer und Thermometer) in See gestochen war;
  • in deren Verlauf er (zusammen mit seinem Begleiter, dem französischen Botaniker Aimé Bonpland) nicht nur zahllose Pflanzen- und Tierarten, sondern auch die unmittelbare Verbindung der Flusssysteme des Orinoko und des Amazonas entdeckte;
  • während der er nicht nur 4.000 Kilometer durch die Anden zurücklegte, sondern im Juni 1802 auch den über 6.000 Meter hohen erloschenen Vulkan Chimborazo im heutigen Ekuador, der damals als höchster Berg der Welt galt, fast bis zur Spitze bestieg und damit bis in eine Höhe gelangte wie zuvor noch kein Mensch – und das in damals üblichen Lederschuhen und ohne jede Spezialausrüstung;
  • auf der er nicht nur durch Analyse der phosphatreichen Exkremente von Seevögeln (Guano) der europäischen Landwirtschaft zu einem neuen Dünger verhalf, sondern auch wiederholt nur knapp dem Tode – etwa durch das Pfeilgift Curare oder durch Krokodilbiss – entging;
  • und von der er nach fünf Jahren – europäischen Boden betrat Humboldt erstmals wieder am 3. August 1804 nahe Bordeaux – mit so viel gesammeltem Material (allein 60.000 Pflanzen, unter ihnen 3.600 unbekannte) zurückkehrte, dass dessen Aufarbeitung ihn jahrzehntelang in Anspruch nehmen und schließlich 33 publizierte Bände füllen sollte;

als Comic präsentiert.
Also auch für eher Lesefaule.
Als kongeniale Illustratorin stand Wulf dabei Lillian Melcher zur Seite, und das Ergebnis rechtfertigt den von vielen Seiten reichlich zugeteilten Lorbeer allemal.
Dass Humboldt in seinem Jubeljahr durchweg als über seine Zeit weit hinaus wirkende Lichtgestalt gefeiert wurde, rechtfertigen sein Leben und seine Leistungen allemal. Da musste auch Andrea Wulf keine Ausnahme liefern. Allerdings verschweigt sie zugleich nicht, dass Humboldt bisweilen durchaus den Grenzen seines Zeitalters verhaftet blieb. Etwa als er im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts, aber gegen den Willen der Einheimischen, die Höhle von Ataruipe, eine indigene Grabstätte im heutigen Venezuela, durch Entnahme menschlicher Gebeine „entheiligte“ (so Humboldts eigene Wortwahl).
Genehmigt worden war der Mittel- und Südamerikapart von Humboldts Reise übrigens durch die spanische Krone, zu deren Kolonialreich jene Gegenden damals gehörten. In seinen späteren Publikationen äußerte Humboldt teils scharfe Kritik an der spanischen Kolonialpraxis, insbesondere an der Sklaverei. Darüber war nicht nur das spanische Herrscherhaus not amused, auch in London nahm man Humboldts „Illoyalität“ nachwirkend zur Kenntnis: Um eine Einreisegenehmigung nach Indien bemühte sich das Universalgenie zeitlebens vergeblich.

Andrea Wulf: Die Abenteuer des Alexander von Humboldt. Eine Entdeckungsreise, illustriert von Lillian Melcher, aus dem Englischen von Gabriele Werbeck, C. Bertelsmann Verlag, 272 Seiten, 28,00 Euro.