Den Titel des vorliegenden Buches könnte man – je nach Perspektive – gleichermaßen schlicht sowie reißerisch nennen. Wie auch immer: Damit wird auf alle Fälle ein energisches Zeichen gesetzt, um innerhalb der öffentlich wenig wahrgenommenen Legionen von pädagogisch intendierten Schriften aufzufallen. Das ist ein Gewinn, der allerdings geradezu symbiotisch mit einem großen Nachteil verbunden ist. Es wird ein negatives Pauschalurteil suggeriert. Damit haben es weniger wohlgesonnene Kritiker leicht, ebenfalls in pauschalisierender Rhetorik das Werk und seinen Autor eher zu denunzieren, denn sich substantiell mit der vorliegenden Philippika auseinanderzusetzen. Martin Spiewak agierte diesbezüglich in Die Zeit geradezu leitbildhaft. Michael Winterhoff ist für ihn einfach der Thilo Sarrazin der Erziehung.
Diese Stigmatisierung ist derart wirkmächtig, dass sich damit jede Diskussion über das Buch weitgehend erledigen könnte. Und tatsächlich: Andere Rezensenten greifen das Bild auf und sind darüber schnell bei dem Punkt, Winterhoff propagiere eine „schwarze Pädagogik“. Ich musste selbst erleben, wie kluge Freunde, nachdem ich ihnen erzählt habe, dass ich mich mit diesem Buch auseinandersetzen will, entgeistert riefen, das sei doch der Bildungs-Sarrazin! Wie kannst du nur? Welches Armutszeugnis bedeutet das für die gegenwärtige Diskurskultur in unserem Land?
Dabei macht Winterhoff nicht viel mehr, als auf der Grundlage seiner Erfahrungen als Kinderpsychiater darüber zu reflektieren, warum es Heranwachsenden so oft an sozialer und emotionaler Intelligenz mangelt. Kinder würden mehr oder weniger zu Narzissten und Egozentriker heranwachsen, die sich wesentlich nur um sich selbst drehen und lustorientiert in den Tag leben. Neben der Situation in den Elternhäusern, wo die Erwachsenen zunehmend „unter Strom“ stünden und als Bezugspersonen nur noch wenig leisten können, macht er für die bedenkliche Entwicklung die Situation in unseren Bildungseinrichtungen verantwortlich. Auch hier gebe es keine Bezugspersonen mehr, seitdem vor etwa zwanzig Jahren auf Betreiben der OECD und befeuert durch einen permanenten Rankingparcours à la PISA-Studien Konzepte des autonomen Lernens die Oberhand gewannen. Lehrer sind zu Lernbegleitern degradiert worden und damit fallen sie als eigentlich notwendige Orientierungsfiguren aus.
Winterhoff versteht sich ausdrücklich nicht als pädagogisch qualifizierter Fachmann, entsprechend kann er auf keine empirischen Forschungsergebnisse verweisen, die seine Thesen belegen. Doch er sieht sich auf der Grundlage seiner subjektiven Beobachtungen als Warner und man möchte hoffen, dass ihm das Schicksal der Kassandra erspart bleibt. Liest man seine Kritiker, gibt es diesbezüglich allerdings keinen Grund, so richtig optimistisch zu sein. Da geht es weniger um die angeführten problematischen Sachverhalte, sondern man versucht den Autor als Apostel einer rückwärtsgewandten Untertanenschule zu disqualifizieren, der den modernen schülerzentrierten Unterricht als angemessene Form der Individualentwicklung hintertreiben möchte. Man setzt sich nicht mit dem Umstand auseinander, dass es für den offenen Unterricht – ebenso wenig wie für eine sinnvolle Inklusion – weder personell noch materiell eine hinreichende Schulausstattung gibt.
Gar nicht reflektiert wird im Empörungsfuror die Problematik der sogenannten Quereinsteiger, die ursächlich für gar keine Schulmethodik qualifiziert sind. Nein. Winterhoff wird als Protagonist einer Lenkungspädagogik angegriffen, der die kleinen Leuchtelichts durch häufige Wiederholungen bei der Einübung der Grundfunktionen quälen will. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass der Autor in seiner Publikation etwa ein Loblied auf das humboldtsche Bildungsideal singt. Denn das Bildungsziel des mündigen, kritischen Bürgers sei heute mehr denn je wichtig. Winterhoff ruft selbst Maria Montessori als Kronzeugin für seine Kritik am aktuellen Schulsystem an. Deren Satz: „Hilf mir, es selbst zu tun!“ bringe das elementare Bedürfnis der Kinder auf den Punkt. Das heißt nicht, lasse mir jegliche Freiheit, das zu suchen, was mir gerade passt. Es muss heißen, mache mir Angebote, die mich , und gib mir Orientierung, wenn ich nicht weiter weiß.
Man kann sich fragen, warum derartige Positionen zwar von Winterhoffs großer Leserschar positiv konnotiert werden, bei den Bildungsideologen aller Art aber so vehement auf Ablehnung stoßen. Das scheint kein Problem zu sein, welches sich vordergründig an herkömmlichen Denkschablonen zwischen modern fortschrittlich beziehungsweise konservativ festmachen lässt. In der jungen welt vom 26. Oktober 2019 gab es ein Interview mit dem Autor und Rudolstädter Theaterintendanten Steffen Mensching. Ein Intellektueller, der eher im linken Spektrum der Gesellschaft zu verorten ist. Er sagte unter anderem: „Ich bin wohl nicht der einzige, der eine rasante Tendenz von Verrohung, des Verfalls elementarer Umgangsformen und einer grassierenden Verblödung konstatiert. Wobei Unbildung sich durchaus mit hohem Fachwissen verträgt.“ Deutschland verblödet, das könnte man als Synonym für Winterhoffs Titel lesen. „Der asozialisierende Effekt der digitalen Medien, in denen sich der einzelne als einzelner genügt, wo Empathie verlorengeht und Gemeinsinn verkümmert“ ist für Mensching eine Ursache des Dilemmas.
Winterhoff deutet ähnliche Beziehungsfelder an. Kindern unter zehn Jahren sollten weder Smartphones noch Tablets in die Hand gegeben werden, weil dadurch ihre psychische Entwicklung unterdrückt wird. Genau das beißt sich aber mit der Aufgabenstellung, die heute in erster Linie Schule zu erfüllen hat. Die Kinder sollen für den Arbeitsmarkt fit gemacht werden. Genauer gesagt müsste es heißen: Für den digitalen Arbeitsmarkt. Das heißt leider nicht, sie sollten lernen, die Medien als Erweiterung ihrer Sinne zu verstehen. Damit wäre ein echter Persönlichkeitsgewinn verbunden. Nein, es geht darum, dass sie in den vorgegebenen Algorithmen funktionieren. Wer mit der Digitalisierungsoffensive für die Schulen die technischen Wunderdinge des Silicon Valley in den Bildungsalltag implementiert, der öffnet auch der dortigen hyperindividualistischen Kultur alle Tore. Den Protagonisten der kalifornischen Informationsindustrie geht es nicht nur um technisches Gerät zum Zwecke der Dienstleistung, sondern wenn man deren Theorien genauer betrachtet, haben sie den Anspruch, die Weltgesellschaft generell nach ihrem Bilde zu formen. Wie hilfreich ist dafür, wenn man an deutschen Schulen den Kindern die Mühe erspart, eine komplexe individuelle Schreibschrift zu erlernen. Wozu braucht man diese Kulturtechnik noch, wenn es computerbasierte Spracherkennungsprogramme gibt?
Winterhoff macht auf die verheerenden entwicklungspsychologischen Auswirkungen einer solchen Schulpolitik aufmerksam und er erinnert daran, dass die entsprechenden Konzepte schon lange nicht mehr von unabhängigen gesellschaftlichen Instanzen entwickelt werden. Bildung in kleinste Teilchen, die sogenannten Kompetenzen, zu fragmentieren ist aus den Denkfabriken rein wirtschaftlich interessierter Unternehmen wie „Pearson Education“ aus Großbritannien oder dem deutschen Bertelsmann Konzern erwachsen. Deren Interessen werden flankiert von einer sich als linksliberal verstehenden Kulturelite, die vorgibt, auf eine wachsende Vielfalt zu reagieren und dabei als Konsequenz den kleinsten gemeinsamen Nenner an Ansprüchen immer tiefer setzt. Dort, wo es nicht mehr um widersprüchliches und komplexes Denken geht, verschwindet auch Goethes „Faust“ aus den Rahmenplänen.
Ein solches Schulkonzept kommt gar nicht mehr auf die Idee, dass man in Kenntnis antiker Philosophie einen wahrlichen Genuss aus aktuellen Medienangeboten ziehen könnte. Darauf macht aktuell der österreichische Philosoph Stefan A. Marx in seinem Buch „Medienkompetenz – Vom selbstbestimmten Umgang mit den Medien“ (2019) aufmerksam, wenn er mit Bezug auf Chilon von Spartas „Erkenne dich selbst“ empfiehlt, dass jeder, der über Dinge nachdenken möchte, die ihn Medien über die Welt vermitteln, zunächst über sich, einschließlich der Anerkennung der eigenen Begrenztheit, eine möglichst klare Vorstellung haben sollte. Dabei helfe Gelassenheit, was nach Platon wiederum Besonnenheit zur Voraussetzung habe. Welch interessante Koordinaten, um sich darauf aufbauend mit Genuss den Medien zuzuwenden und welch ein Kontrast zum gegenwärtig praktizierten Bildungsalltag!
Michael Winterhoff: Deutschland verdummt – Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019, 224 Seiten, 20,00 Euro.
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