von F.-B. Habel
Im übrigen gilt ja hier derjenige,
der auf den Schmutz hinweist,
für viel gefährlicher als der,
der den Schmutz macht.
Kurt Tucholsky
Selten wurde behauptet, der neue Tucholsky sei gefunden. Nachkriegs-Weltbühnen-Autor Lothar Kusche (Kurt Tucholsky-Preisträger 2007) nannte man mal den „Tucholsky vom Alexanderplatz“. Noch zu seinen Lebzeiten sah man in Mascha Kaléko eine „Tochter Tucholskys“, und tatsächlich hat die jüdische Wahlberlinerin in der Emigration Tucholskys Wendriner-Geschichten weitergesponnen.
Eine Urenkelin des Namenspatrons könnte die diesjährige Tucholsky-Preisträgerin Margarete Stokowski sein. Sie sagt über sich: „Im Großen und Ganzen versuche ich, da Staub aufzuwirbeln, wo es eh schon dreckig ist. Also ungefähr das Gegenteil von dem, was von einer Polin in Deutschland erwartet wird, Zwinkersmiley.“
Am ersten Novembersonntag wurde der Feuilletonistin und Bloggerin, die 1988 mit zwei Jahren aus Polen nach Berlin kam und seither hier zu Hause ist (auch in der Tucholsky-Straße hat sie eine Zeitlang gewohnt), im Berliner Theater im Palais der Kurt Tucholsky-Preis für ihre Kolumnensammlung „Die letzten Tage des Patriarchats“ verliehen. In der Begründung der Jury heißt es: „Stokowski rückt Schieflagen in noch krassere Perspektiven und schreibt dabei so einzigartig, lustig, unverfroren und intelligent, dass es unmöglich ist, diese Stimme zu überhören. Ihre Analysen sind messerscharf. Jeder Satz, jede Metapher, jede Pointe sitzt, und bei aller Ironie schafft sie es, letztlich doch sachlich in ihrer Streitbarkeit zu bleiben. Sie legt mit bestechenden Argumenten den Finger in schwärende Wunden und zwingt die Lesenden dazu, bittere Wahrheiten über sich selbst zu schlucken.“
Die Journalistin, die aus der taz hervorging und jetzt für Spiegel Online arbeitet, wurde vom Magazin der Süddeutschen Zeitung als „lauteste Stimme des deutschen Feminismus“ bezeichnet. Damit geht sie angenehm selbstironisch um, hat sie doch auch andere Themen, die aber immer soziale Fragen berühren. Beispielsweise bemängelte sie, dass im Zusammenhang mit Ausschreitungen, Brandstiftungen und Plünderungen, die es neben friedlichen Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg 2017 auch gab, in der bürgerlichen Presse immer wieder von „Anarchie“ die Rede war. „Wären die Leute, die in Hamburg die Geschäfte geplündert haben, Anarchist*innen gewesen, hätten sie die Läden nicht zerstört, sondern beispielsweise in Genossenschaften übernommen, die Preise und Löhne angepasst und als ausbeutungsfreie Unternehmen geführt“, schreibt Stokowski, und fährt fort: „Anarchie ist ein anziehend wilder Begriff, so sieht es aus, aber eben auch ein politischer Begriff, mit dem man nicht rumschmeißen sollte, wann immer irgendwo Chaos ist.“
Der Preisverleihung war in der Humboldt-Universität die Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft vorausgegangen, die in diesem Jahr unter dem Motto stand: „Man muss protestieren – Schriftstellerinnen und Schriftsteller und politisches Engagement“. Ian King, der in London lebende Vorsitzende der Gesellschaft, schlug in seinem Eröffnungsvortrag einen Bogen von Émile Zolas „J’accuse“ über die Rehabilitierung des angeblichen Landesverräters Alfred Dreyfus von 1898 und Rolf Hochhuths Kritik am „furchtbaren Juristen“ Hans Filbinger (damals Ministerpräsident in Baden-Württemberg) von 1978 bis in die Gegenwart. Andere Vorträge befassten sich mit mutigen Autoren wie Kurt Eisner in München und Vaclav Havel in Prag. Stärker stand jedoch im Vordergrund der Tagung die Gegenwartsliteratur, deren Vertreter mitunter politischer sind, als das gelegentlich behauptet wird. Roman Widder von der Humboldt-Universität analysierte Alexander Schimmelpfennigs 2018 erschienenen satirischen Thesenroman „Hochdeutschland“, in dem der Autor das Mittel der Verstaatlichung in Betracht zieht und fragt, wie es wäre, wenn „das ewige Pendel von der Vermögenskonzentration wieder in Richtung der Kollektivierung sausen würde“. Widder untersuchte darüber hinaus Verbindungslinien zu Stefanie Sargnagels „Statusmeldungen“ (2017), in dem sie unter anderem die Flüchtlingskrise thematisiert, und auch zu dem Politiker und Kinderbuchautor Robert Habeck, dessen politische Schriften literarische Qualitäten hätten. Dass er ein Anwärter auf den Kurt Tucholsky-Preis wäre, steht allerdings in den Sternen.
Anmerkung der Redaktion: Auf der Mitgliederversammlung am Rande der Tagung wurde unser langjähriger Autor zum Zweiten Vorsitzenden der Kurt Tucholsky-Gesellschaft gewählt. Wir gratulieren herzlich!
Schlagwörter: F.-B. Habel, Preis, Tucholsky, Tucholsky-Gesellschaft