von Joachim Lange
Es ist tatsächlich so spektakulär, wie es auf dem Papier klingt: Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera und die Philharmonie Banatul Timișoara (oder Temeswar wie die kleine, aber respektierte deutsche Minderheit dort sagt) legen ihre begrenzten Ressourcen zusammen und spielen gemeinsam, was sie alleine nie könnten: Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 3. Das ist die mit dem übermächtigen ersten Satz, dem Altsolo „Oh Mensch gib acht“ und dem Blick auf’s Weltganze. Abendfüllendes sinfonisches Prachtstück und Herausforderung in Einem! Dazu reist das Orchester in Geras Partnerstadt Temeswar und füllt so den programmatischen Ansatz, den das Thüringer Zweistädte-Theater Altenburg-Gera mit Bedacht „Zukunftsmusik ostwärts“ genannt hat, mit Leben. Und wird damit zum Kulturbotschafter in eigener Sache.
Vor dem Mahler ein Brahmskonzert der Thüringer.
Und dann als Clou in Bukarest ein Auftritt im schönsten Konzertsaal des Landes, dem Athenäum.
Für so ein Unternehmen lässt man schon mal die Instrumente per Spezialtransporter nach Rumänien reisen und setzt sich selbst ins Flugzeug …
Temeswar – von der Hauptstadt Bukarest ungefähr genauso weit entfernt wie von Wien – ist es gelungen, was Gera gerade gegen eine Schar von starken Mitbewerbern versucht: die rumänische Stadt ist Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2021. In Temeswar, wo man schon mal mit dem Etikett „Klein Wien“ kokettiert, ist mancher – so wie der weltläufige, gerade installierte neue Intendant der Staatsoper, der Bariton Christian Rudik – der Meinung, dass die Entfernung nach Wien im übertragenen Sinne geringer ist, als die nach Bukarest. Arbeitslosigkeit ist in der rund 300.000-Einwohner-Stadt jedenfalls nicht das Problem. Ein Abgeordneter der deutschen Minderheit berichtet von einer deutschfreundlichen Grundstimmung. Und von großer Aufgeschlossenheit ausländischen Investoren gegenüber.
Ein Spaziergang durch die Innenstadt von Temeswar lässt den Besucher staunen. Die Zahl der erhaltenen und noch zu rettenden architektonischen Schmuckstücke der Vergangenheit ist unübersehbar, der Investitionsstau aber auch. Dass Temeswar 1884 eine der ersten Städte Europas mit einer elektrischen Straßenbeleuchtung war, ist natürlich eine metaphorische Steilvorlage für ein Kulturhauptstadtmotto.
Die bewusste Wiederbelebung der Städtepartnerschaft mit Gera, die schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts begründet wurde, aber zwischendurch mal weggenickt war, passt da genau ins Bild. Für 2025 ist Gera angetreten, um in Deutschland gegen Chemnitz, Dresden, Zittau, Magdeburg, Hannover und Nürnberg Europäische Kulturhauptstadt zu werden. Der Titel wird seit 1985 für ein Jahr von der EU vergeben. Weimar hatte es beispielsweise 1999 geschafft.
Wer die zweite Runde der aktuellen Bewerbung erreicht hat, wird am 12. Dezember bekanntgegeben. Dann beginnt die heiße Phase im Streben nach der Krone.
Zu einer für die Geraer hochinteressanten Begegnung kam es am Rande der Konzerte mit der Generaldirektorin der Kulturhauptstadt Temeswar, Simona Neumann. Zu den Gäste aus Gera zählten da – neben der Beigeordneten des Geraer OB Claudia Baumgartner und Generalintendant Kay Kuntze – auch der Chefdramaturg des Theaters Altenburg Gera, Felix Eckerle, der Mitglied des Lenkungsausschusses Gera 25! ist und die eigene Bewerbung sozusagen im Schlaf drauf hat. Neumann berichtete aus den eigenen Erfahrungen heraus über das Wie der Präsentation und darüber, was die Jury in dem Zusammenhang mag oder was bei ihr überhaupt nicht so ankommt. Zu Letzterem zählen längere Politikerstatements – denn die Gesamtzeit für die Präsentation liegt bei 40 Minuten.
Im Zentrum dieser Orchester-Reise freilich standen die beiden Konzerte in Temeswar und das Festkonzert in Bukarest. Brahms hatten die Thüringer im Gepäck. Vor der Sinfonie Nr. 1 c-Moll, die dann auch in Bukarest (unter ungleich günstigeren akustischen Bedingungen) noch einmal erklang, hatten die Gäste aus Deutschland in Temeswar den Pianisten Bernd Glemser dabei, der seinen Part beeindruckend souverän beisteuerte. Mahlers Dritte war dann ein kooperative Experiment, das GMD Laurent Wagner vor Ort in Form brachte. Raus gekommen sind gemischte Besetzungen bei den jeweiligen Instrumentengruppen, die versuchten, die jeweiligen Stärken zu nutzen. Die einen wurden von den Geraern geführt, die anderen von Musikern aus Temeswar. Am Ende war mit 60 Musikern aus Gera und 52 aus Temeswar eine Orchestergröße für ein Mahler-Erlebnis der besonderen Art beisammen.
Natürlich wussten alle Beteiligten, dass sie damit nicht im Schlusssprung in der Spitzenriege der Mahler-Interpretation landen.
Hinzu kam, dass die Eröffnungsreden etwas lang gerieten und die Musiker dicht gedrängt auf ihren Auftritt warten mussten, so dass manche Passage in der Generalprobe präziser gelungen war, als dann beim Konzert. Dennoch machte das Gesamtresultat trotzt der schwierigen, trockenen Akustik eines ehemaligen Kino-Saals Eindruck: inklusive Aura Twarowskas Altsolo, der Chöre und des Kinderchors. Für die Sängerin, die Ioan Holender für zehn erfolgreiche Jahre an die Wiener Staatsoper geholte hatte, war das ein Heimspiel – sie stammt aus der Gegend um Temeswar.
Das Mahler-Experiment wird noch ein weiteres Kapitel in Gera haben, dort wird es am 13. November in dieser Besetzung unter etwas günstigeren räumlich akustischen Bedingungen wiederholt!
Möglich wurde das gesamte Unternehmen durch den spektakulären Erfolg, den das Theater Altenburg-Gera in der Spielzeit 2017/18 mit seiner „Oedipe“-Produktion eingefahren hatte. Eine Pionierarbeit in Sachen des rumänischen Komponisten Nr. 1 George Enescu, der sich aktuell sonst nur die Salzburger Festspiele in diesem Sommer gestellt haben. Zusammen mit der handfesten „Ermutigung“ durch eine 250.000 Euro-Zuwendung vom Bund gab es starken Rückenwind für eine kulturpolitische Initiative, mit der sowohl die Städtepartnerschaft als auch die Kulturhauptstadtbewerbung jenseits aller Absichtsrhetorik konkrete Gestalt angenommen hat.
In Temeswar nutzten einige der Musiker einen vorstellungsfreien Abend, um sich Lehars „Lustige Witwe“ im Opernhaus anzuschauen. In Rumänisch und ausschließlich aus dem Hausensemble besetzt war das eine interessante, etwas aus der Zeit gefallene Erfahrung, wie man sie an Theatern im deutschsprachigen nicht mehr machen kann (oder muss). Wobei die gesprochenen Passagen, auch wenn man außer den Namen nichts verstand, ziemlich professionell wirkten.
Das Haus im Zentrum von Temeswar beherbergt im Übrigen auch das deutsche, ungarische und serbische Theater! Dem neuen Intendanten nimmt man den Willen zur Modernisierung, den er im Gespräch mit einer Portion k.u.k Charme vermittelte, durchaus ab. Sein Orchester, die Akustik des Hauses und der Chor sind die Pfunde, die (mehr als die ererbte Ensemblestruktur) überzeugen. Das einheimische Publikum jedenfalls akzeptierte seine „Lustige Witwe“ so, wie sie präsentiert wurde. Im Falle der mit Esprit und Stimme verschwenderischen Narcisa Brumar als Hanna Glawari war das auch ohne Abstriche nachvollziehbar.
An die tragischen Besonderheiten der rumänischen Revolution von 1989, die von Temeswar ausging, erinnert der Blick vom Balkon des Opernhauses auf die imponierenden, verwitterten Fassaden. Dort zeugen Einschusslöcher noch immer davon, dass Ceaușescus Securitate hier mit Gewalt gegen die Massen vorging.
Der Punkt auf dem I dieses Go-East-Ausfluges der Thüringer Musiker bildete das Festkonzert aus Anlass von 30 Jahre Mauerfall und Revolution im Bukarester Athenäum. Der runde, 800 Plätze fassende Saal mit einem Durchmesser von 28,5 Metern und mit 16 Metern Höhe ist ein architektonisch akustisches Schmuckstück mitten im Bukarester Zentrum. Hier gab es vor der schon in Temeswar erprobten Brahms-Sinfonie die rumänische Erstaufführung eines von Gera-Altenburg beim renommierten rumänischen Komponisten Dan Dediu in Auftrag gegebenen und in Gera uraufgeführten Konzertes für Violoncello und Orchester. Vom Rundfunk übertragen, mit packender Sinnlichkeit und Mircea Marian am Violoncello, traf Dedius Komposition mit ihrer abwechslungsreich assoziativen Musik die Erwartungen eines begeisterten Publikums.
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