22. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2019

November November

von Erhard Weinholz

Am Morgen des 4. November regnete es ununterbrochen, und es regnete auch am Vormittag weiter. Am späten Nachmittag sollte die Theatertruppe „Panzerkreuzer Rotkäppchen“ auf dem Alexanderplatz ihren Auftritt haben, und ich wollte ihnen schon mailen: Werte Genossen, um Scheitern zu vermeiden, Revolution bitte auf morgen verschieben … Revolutionen wollen nämlich gründlich bedacht sein. Sie gelingen dann auch meist, bringen aber fast nie, was sich die Revolutionäre der ersten Stunde erhofft haben. Wir kennen es von 1848, 1918, 1989.
Der Himmel jedenfalls meinte es gut mit der Panzerkreuzerbesatzung, die Wolken verzogen sich, das Wetter wurde fast so schön wie vor dreißig Jahren. „4 – 11 – 89 Theater der Revolution“ hatte das kurz PKRK genannte Kollektiv seine Aufführung betitelt, und ich versuchte mir vorzustellen, wie so ein paar Theatermenschen eine Massendemonstration spielen könnten. Oder würde man das Publikum einbeziehen? In der Straßenbahn fiel mir ein Versäumnis ein: Ich war am 4. November 1989 ohne Plakat zur Demo gegangen – da hätte ich doch diesmal eins mitbringen können, ein ganz kleines wenigstens, postkartengroß und mit der Aufschrift … ja, was verlangt man denn heute so? Auf alle Fälle hätte es handgeschrieben sein müssen, alles andere wäre damals verdächtig gewesen.
Beginn 17 Uhr hatte es geheißen, kurz danach war ich am Alex. Die Bühne, im Osten des Platzes aufgebaut, nicht weit entfernt von der Weltzeituhr, war noch leer. An der Seite hing ein Bild, das mir wieder einmal zeigte, dass ich die Welt mitunter missverstehe: Krenz war darauf zu sehen, wie er als Wolf mit Großmutterhaube die Zähne bleckt, vielleicht das bekannteste Plakat jener Demo. Und ich hatte bei Rotkäppchen immer nur an den Sekt gedacht, der als Symbol des DDR-Spießertums gilt: Ihr seid doch die, die Rotkäppchen trinken, Rotkäppchen halbtrocken, hähähä!
Die Bühnenschau hier war, wenn ich es richtig verstanden habe, die Auftaktveranstaltung der Festivalwoche „30 Jahre friedliche Revolution – Mauerfall. 7 Tage – 7 Orte“, einer Woche mit vielen Veranstaltungen, mit Zeitzeugengesprächen, Fotoausstellungen – am Brandenburger Tor etwa von Helga Paris –, mit Filmvorführungen und Workshops, bei denen es nicht nur um die Jahre 1989/90, sondern auch um Heutiges geht. So las ich es jedenfalls in der Infobroschüre. Zu einem Auftakt aber passt Sekt allemal. Und so wurde er im Pavillon neben der Bühne, wo man für geladene Gäste einen Empfang gab, auch Flasche um Flasche ausgeschenkt. Wir anderen standen draußen und durften zuschauen. Immerhin! Zu DDR-Zeiten tranken die Oberen nämlich ihren Schampus klammheimlich im ZK-Gebäude oder draußen in Wandlitz. Manchen schien der Sekt hier aber, wie man so sagt, zum Stein des Anstoßes zu werden, der alten Frau beispielsweise, die am Pavillon vorbeischlich und murmelte: Draußen gibt’s nur Infomaterial, und da drinnen bin ich nicht geladen.
Irgendwann sprach aus Anlass dieses Auftaktes noch ein mir unbekannter Mensch ins Mikrophon; es war, wie ich dann hörte, der Regierende Bürgermeister. Er sprach von Freiheit und Demokratie und von Berlin als Stadt der Demokratie und der Freiheit usw. … Ich wanderte währenddessen ein wenig in der Gegend herum, und mir fiel auf, dass etwas fehlte: Man hatte die Obdachlosen, die sonst hier kampierten, allesamt des Platzes verwiesen. Es schien die Revolutionäre, die echten wie die falschen, die immer noch beim Sekt im Pavillon standen, nicht weiter zu stören.
Vor der Bühne hatte sich eine beträchtliche Menschenmenge versammelt, die Schau begann: Es dröhnte aus Lautsprechern, Farben waberten, Arme wurden gen Himmel gestreckt, und es wurde rezitiert aus den Reden an diesem längst vergangenen Novembertag. Mein Freund G., aus dem Osten stammend, aber nun schon seit Jahrzehnten im Westen, war begeistert vom Tanz, von den Liedern, der Musik. Mir hingegen war das alles auf eine schwer zu erklärende Weise peinlich: Das nüchterne Pathos und das Festtägliche dieser Großdemonstration, zu der man so ganz selbstverständlich zusammengekommen war, sie passten, so schien mir, nicht mehr in diese Welt. Das Bühnenspektakel konnte sie nicht wiederbeleben, folgte auch einer ganz anderen Ästhetik. Sollten die Ideen dieses Tages, der damals wenig erbracht hat, heute fortwirken, müsste man wohl einen anderen Weg gehen: Dass sich da und dort drei oder vier, vielleicht auch ein Dutzend oder mehr in seinem Namen versammeln, miteinander reden und, wenn möglich, zu handeln beginnen. Etwas in der Art. Aber muss die Bühne sich nicht in ihrer Eigenart zeigen, die auf uns heute berechnet ist? Mag sein. Doch wird sie so dem Gegenstand gerecht? Ein Endurteil ist hier wohl nicht möglich.
Ich fand dann Platz auf einer der Bänke nahe beim Alexanderhaus; was auf der Bühne geschah, war zu hören, doch nicht mehr zu sehen. Wie sollten sie nebeneinander stehen, der vierte November und der neunte? Aus gesamtdeutscher Sicht ist der Mauerfall wichtiger. Für mich nicht. Doch wo sind sie geblieben, die Hunderttausende? Hat die Wirtschaftslage sie resignieren lassen, die Massenflucht? Ein paar Tage nach dem Neunten gab es am S-Bahnhof Greifswalder eines Morgens zur Bockwurst keine Brötchen, und ich hörte vom Verkäufer, die Besatzung einer ganzen Fließstrecke sei plötzlich abgedampft. Diese Fluchtwelle war, so glaube ich, das Bedrohlichste damals.
Aber hat an jenem Viertem nicht auch Mielke ordentlich mitgemischt? Man wisse zwar keine Einzelheiten, erzählt mir dieser und jener, habe es aber von A gehört … Z könne dazu etwas sagen … In der Broschüre lese ich, die SED habe damals die Strategie gewechselt und, statt den Protest zu unterdrücken, versucht, ihn zu lenken und zu beeinflussen – na gut, versucht hat die SED im Laufe der Jahre vielerlei, aber hat sie es erreicht? Man sagt es nicht, lässt nur den Satz folgen, auf dem Alex hätten neben Oppositionellen und Künstlern auch SED-Funktionäre gesprochen. Und die Erwähnung dieser Funktionäre (in Wahrheit sprach nur einer) suggeriert für mein Empfinden, es sei nicht beim Versuch geblieben. Beweisen muss man es nicht, man hats ja nicht behauptet.
Tatsächlich hatten SED-Führung und MfS nicht mehr die Macht, der Vorbereitungsgruppe dieser Demonstration ihre Vorstellungen aufzudrängen, der Strategiewechsel war ja Folge eines Machtverlustes. Dass drei Vertreter des alten Systems als Redner auftreten durften, neben Politbüromitglied Schabowski Generaloberst a. D. Wolf und der LDPD-Vorsitzende Gerlach, hing wohl mit der von beiden Seiten noch immer verfolgten Dialogpolitik zusammen. Doch die Hoffnung der Herrschenden, auf diese Weise Einfluss zurückzugewinnen, erfüllte sich nicht. Ich sage also: Liebe Leute, versucht nicht, uns etwas unterzujubeln. Es gibt im Osten viele Leichtgläubige, aber auch nicht wenige, die sich auskennen mit den Tricks und Kniffen der Bewusstseinsgestalter.

Der Autor hat für den Freitag Nr. 44/2019 die Texte der Rubrik A bis Z zum Thema 4. November 1989 verfasst.