von Bettina Müller
Besucher aus anderen deutschen Städten, die manchmal nur den brutalistischen Beton ihrer wenig charmanten Rathäuser kennen, stehen erst einmal einigermaßen ratlos auf dem Marktplatz von Michelstadt und begutachten das Gebäude mit den spitzen Türmchen und dem hölzernen Unterbau. Amerikanische Touristen wiederum bekommen Schnappatmung, weil das ganze Ensemble so unglaublich alt aussieht und tatsächlich älter als die Entdeckung ihres eigenes Kontinents ist. Und dann hört man es tuscheln: „It can’t be real“ („Das kann doch nicht echt sein“). Kurzzeitig vermuten die Touristen sogar, dass sie sich eventuell in eine Legoland-Filiale verirrt haben, in der das Rathaus mit den Plastiksteinen nachgebaut wurde. Doch dann liest man eine in Stein gemeißelte Zahl in arabischen Ziffern auf der Seitenwand und atmet zunächst erleichtert, dann erstaunt auf: 1484. Ein derart gut erhaltenes Verwaltungsgebäude, eingebettet in ein historisches Gesamtensemble, ist in Deutschland sehr selten, so dass das Michelstädter Rathaus einst sogar einmal auf einer Briefmarke der Deutschen Bundespost verewigt wurde.
Das ganze Ambiente des Marktplatzes ist in der Tat außergewöhnlich. Wäre da nicht die Zusammenwürfelung von Baustilen aus verschiedenen Epochen, so könnte man sich im Unterbau des Rathauses im Mittelalter wähnen. Staubige Erde, Marktstände, Tiere, feilschende Menschen, ein Gewusel und ohrenbetäubender Lärm auf einem abgeschiedenen Marktflecken vor sage und schreibe 535 Jahren, Eine sehr ferne Zeit, die man sich heute kaum vorstellen kann, so dass auch das Rathaus wie ein Fremdkörper wirkt, den man deshalb fälschlich für falsch halten kann.
Im Rathaus ging es mit Sicherheit oft sehr ruppig zu, weil dort die Gerichtsurteile gefällt wurden, so zum Beispiel beim Zentgericht. Ganz üble Gesellen, die das Pech hatten, zum Tode verurteilt zu werden, mussten den langen schweren „Centhweg“ gehen, der schnurstracks zum Michelstadter Galgen führte, der etwas außerhalb der einstigen Stadtmauer lag. Kurzzeitig sah man im 17. Jahrhundert von dieser Hinrichtungsmethode ab und köpfte die unglücklichen Verbrecher stattdessen.
Besucht man Michelstadt, so kann man den Eindruck gewinnen, dass viele der Reisenden Tagestouristen sind. Das merkt man vor allem spätnachmittags und abends, wenn die Fußgängerzone des Fachwerkstädtchens auf einmal schlagartig verwaist ist. Ganze Busladungen werden vorzugsweise tagsüber auf den Parkplätzen vor der alten Stadtmauer ausgekippt, zum Marktplatz gelotst, bevor sie dann in das nicht weniger berühmte „Weltmeistercafé“ geführt werden, wo der renommierte „Grand Patissier“ (früher hießen die mal ganz schnöde „Konditor“) Bernd Siefert den Teiglöffel schwingt und sich so 1997 zum Weltmeister buk.
Frisch mit gefühlten 100.000 Kalorien gestärkt, kann man danach noch durch die kleinen und feinen Geschäfte bummeln. Natürlich werden die Besucher dabei darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Schauspielerin Jessica Schwarz zusammen mit ihrer Schwester hier – nahe ihrer Geburtsstadt Erbach – den Traum von einem eigenen Hotel mit Café erfüllt hat. So verweilen die Besucher auch kurz vor diesem Gebäude, das neben dem Michelstadter Brauhaus liegt, zücken ihre Kameras, und dann geht es auch schon hurtig weiter, denn die Zeit ist knapp.
Michelstadt gehört zu den hessischen Städten, in denen es heute wieder eine funktionierende Synagoge gibt, die – nun restauriert – in neuem Glanz erstrahlt. Mittlerweile hat sich vor allem durch osteuropäische Zuwanderer eine kleine Gemeinde aufgebaut. Lange Zeit nach 1945 wurde die um 1791 erbaute Synagoge nicht mehr für Gottesdienste genutzt. 1979 errichtete man in dem Haus das „Landesrabbiner Dr. Isaak Emil Lichtigfeld-Museum“, in dem seither Kultgegenstände, Archivalien, historische Fotos und Dokumente über das Judentum gezeigt werden. Als wieder Gottesdienste abgehalten werden sollten, fehlte allerdings eine Thorarolle. Die spendete 2005 der Landesrabbiner von Sachsen.
Michelstadt aber nur als Bus-Tagestourist eilig abzuhaken, wäre ein Fehler, denn der Ort bietet sich geradezu als Standort für Ausflüge in die nähere Umgebung an. Der Odenwald liegt einem zu Füßen, in dem man sich ganze Tage wandernd verlustieren kann. Franken ist nicht weit mit seinem historischen Kleinod Miltenberg, ebenso der Spessart. Ist man vielleicht dann etwas apathisch von zu viel Ruhe und sucht städtische Abwechslung, lockt Darmstadt mit seinen Jugendstilprachtbauten der Mathildenhöhe.
Und es ist nicht nur das berühmte Michelstädter Rathaus, das einen in Staunen versetzt. Unweit vom Ortskern findet man im Stadtteil Steinbach die nächste Rarität. Und wieder glaubt man es kaum. Zwischen 815 und 827 soll sie erbaut worden sein, die Basilika aus der Karolingerzeit, und zwar von Einhard, seines Zeichens Hofgelehrter, Biograph Karls des Großen und zudem Vertrauter Ludwigs des Frommen. Die Einhardsbasilika zählt in Deutschland zu den seltenen Karolingerbauwerken, die man – derart gut erhalten – nur noch an einer Hand abzählen kann. Dazu gehört unter anderem auch die Torhalle des ehemaligen Klosters in Lorsch in Hessen, die seit 1991 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.
Wenn in der Basilika eine fast meditative Stille herrscht, glaubt man fast, Mönche einen Choral singen zu hören. Doch es ist wohl das unvorstellbare Alter des Bauwerks, das bei Menschen mit zu viel Phantasie schon mal Halluzinationen hervorrufen kann. Bis eine Reisebusladung Touristen wie eine apokalyptische Vision hereinbricht und der Stille ein jähes Ende bereitet.
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