22. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2019

Kirchenspaltungen

von Hermann-Peter Eberlein

Es ist etwas los in den beiden – noch – großen Kirchen. In Sachsen tritt der evangelische Landesbischof zurück, der wegen seiner Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung und noch mehr wegen rechtslastiger Texte in der Kritik steht, die er als Student in einer Winkelpostille publiziert hat. Überall in Deutschland demonstrieren katholische Frauen vor den Kirchentüren und fordern von ihrer Kirche größere Rechte ein – gelegentlich unterstützt von ihren wohlmeinenden und überlasteten Ortspfarrern. Und in Rom ist gerade die „Amazonas-Synode“ zu Ende gegangen, auf der die Möglichkeit der Priesterweihe für verheiratete Männer gefordert, diskutiert und dem Papst vorgeschlagen worden ist.
Die Themen sind verschieden, die Spaltpotentiale gleich. In beiden Kirchen driften progressive und konservative Strömungen immer weiter auseinander und scheuen sich nicht länger, die rüpelhafte Sprache zu benutzen, die in der Politik seit einigen Jahren um sich greift und verheerende Folgen zeitigt.
In der katholischen Kirche sind die Themen klar: die Aufhebung des Pflichtzölibats für Priester und die Ordination von Frauen, also ihre Aufnahme in die kirchliche Hierarchie als Diakoninnen, Priesterinnen und Bischöfinnen. Dazu kommt die alte Forderung aus den deutschen Bistümern, Geschiedene und Wiederverheiratete zur Kommunion zuzulassen – das ist für gläubige Katholiken deswegen besonders wichtig, weil der Empfang des Leibes und Blutes Christi die orale Vereinigung mit Gott darstellt und die mystische besiegelt.
Dieses letztere Problem wird nun aber in der Praxis vor Ort gelöst: Geht man zu einem liberalen Pfarrer in die Messe, so wird man auch dann kaum Schwierigkeiten bekommen, wenn man ihm bekannt ist – und in Massengottesdiensten, wo die Zelebranten und Kommunionhelfer die Teilnehmer nicht kennen, ist sowieso alles möglich.
Die Aufhebung des Pflichtzölibates allerdings müsste von Rom ausgehen: Das wäre kirchenrechtlich und theologisch nicht schwierig, denn es gibt diesen Zwang erst seit dem hohen Mittelalter, und die übrigen Kirchen der Ökumene, auch die orthodoxen, kennen verheiratete Priester.
Was die orthodoxen Kirchen nicht kennen, ist die Priesterweihe von Frauen – und hierauf muss der Vatikan Rücksicht nehmen. Denn einmal ist die Kirchengemeinschaft mit den orthodoxen und orientalischen Kirchen enger als die mit den Protestanten, die kirchenrechtlich gar nicht als Kirchen, sondern nur als christliche Gemeinschaften gelten, und vor allem gibt es in der Ukraine und in anderen Ländern Osteuropas mit Rom unierte Kirchen des byzantinischen Ritus, die in orthodoxer Lehrtradition stehen. So etwas löst man nicht einfach auf, nur weil liberale deutsche Katholikinnen es gerne hätten. Zumal die Katholiken in Afrika und Asien mehrheitlich konservativ sind und auf Missbrauchsvorwürfe und Korruption weniger heftig reagieren als in westlichen Ländern.
Kurz: In der Zölibatsfrage wird sich mittelfristig etwas verändern, in der Frage der Ordination von Frauen nicht – dazu sind die konservativen Potentiale in den wachsenden Bistümern außerhalb Europas und Nordamerikas zu groß. Und bei ihnen liegt die Zukunft der Weltkirche.
In den deutschen evangelischen Landeskirchen geht es vor allem um die Segnung oder gar kirchliche Trauung homosexueller Paare, um die Haltung zur Abtreibung und um sozialethische Themen wie Migration und Klimaschutz. Der nun zurückgetretene Bischof der sächsischen Landeskirche, Carsten Rentzing, vertrat hier unterschiedliche Positionen. Einerseits setzte er sich in der Flüchtlingsdebatte dafür ein, „Flüchtlinge nicht als Problem, sondern als Menschen, als geliebte Geschöpfe Gottes, zu sehen und zu behandeln“, kritisierte deutsche Waffenexporte, verurteilte Pegida und Legida und begrüßte die Proteste von „Fridays for Future„. Andererseits lehnt er Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe und gleichgeschlechtliche Ehen ab und kritisierte die 2013 vorgestellte Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit„ heftig; damit wurde er zu einer Art Wortführer der 2012 gegründeten „Sächsischen Bekenntnis-Initiative“, in der sich Gegner des Gendergedankens und Vertreter einer konservativen Sexualethik gesammelt haben. Nach seiner Wahl zum Bischof hatte sich Rentzing bemüht, die verschiedenen Flügel seiner Landeskirche zusammenzuhalten – dass dies nicht gelungen ist, ist ein Fanal.
Denn konservative Strömungen gibt es auch in anderen Landeskirchen – auch wenn ihre Vertreter keine Gelegenheit haben, Mahnwachen vor ihren Landeskirchenämtern zu postieren, wie nach Rentzings Rücktritt in Dresden geschehen. Meist sind sie eine Minderheit, und es fehlen ihnen intellektuell und rhetorisch überzeugende Führungspersönlichkeiten. Aber gegenüber dem, was den nicht nur von Rentzing so genannten „Mehrheitsprotestantismus“ der Evangelischen Kirche in Deutschland mit ihrem Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm ausmacht, grummelt es an der Basis gewaltig: Da empört man sich darüber, dass Bedford-Strohm bei seinem Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg 2016 sein Kreuz abgelegt hat. Da möchte man kein homosexuelles Paar im Pfarrhaus. Da schüttelt man den Kopf, wenn sich die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, von 2009 bis 2013 Präsidentin der Synode der EKD, bei einem Vortrag in der Duisburger Salvatorkirche bei Greta Thunberg an den Propheten Amos erinnert fühlt. Da fragt man sich, ob es Aufgabe der Kirche ist, ein eigenes Schiff zur Seenot-Rettung von Flüchtlingen ins Mittelmeer zu schicken. Da fühlt man sich genervt von den in kirchlichen Verlautbarungen flächendeckend platzierten Gender-Sternchen oder -Unterstrichen. Da haben manche den Eindruck, ihre Landeskirche mutiere zu einer Art NGO, und fragen sich, wo denn neben Klimaschutz und Migration noch von den klassischen Themen christlicher Theologie – von Sünde und Erlösung, von Tod und Wiedergeburt, Gericht und Gnade – die Rede ist. Da sehnt man sich nach einem Familienbild, das, wenn es auch oft nicht funktionierte, doch wenigstens klar war.
Rentzing als Person ist unbedeutend. Die Art und Weise aber, wie er, der als Landesbischof doch Gräben überbrücken und Parteien zusammenführen wollte, nun von den Konservativen zu einer Symbolgestalt und zum Märtyrer stilisiert wird, zeigt, wie stark die zentrifugalen Kräfte im deutschen Protestantismus mittlerweile geworden sind. Was andernorts noch unter der Decke bleibt, wird hier sichtbar. Es bedarf nur einer Reihe weiterer Anlässe und vor allem einer intellektuell potenten Leitfigur, die es mit Bedford-Strohm aufnehmen kann, um die kaum noch verborgenen Risse zwischen Progressiven und Konservativen aufbrechen zu lassen.
Für die Evangelische Kirche in Deutschland wäre das aus zweierlei Gründen verheerend, ja könnte es ihr Ende bedeuten: Zum einen liegt der Spaltpilz im schwachen Kirchenbegriff des Protestantismus selbst. Für Protestanten – anders als für Katholiken – ist es kein Problem, aus der Landeskirche auszutreten und eine eigene Kirche zu gründen, wenn man in ihr das Evangelium besser bezeugt findet. Zum anderen ist der Protestantismus nicht als Weltkirche organisiert; es gibt kein gemeinsames Oberhaupt und überhaupt keine zentrale Lehr-Instanz. Das macht seine Freiheit aus und ist gut so – schließlich ist nach Luther der einzige Maßstab für gut und böse, richtig und falsch das eigene Gewissen. Aber damit gibt es gegenüber den zentrifugalen Kräften im Protestantismus eben auch kein Gegengewicht. In Zeiten des alten Staatskirchentums und der unbefragt akzeptierten Volkskirche war das kein Problem. In der zerstrittenen Kirche von England ist es derzeit noch eine alte Frau mit Handtäschchen, deren formale Funktion ein Auseinanderbrechen verhindert – wie lange das noch gut geht, weiß niemand.
Bei uns jedenfalls werden am Ende dieses Jahrhunderts Zustände wie in Amerika herrschen: diverse kleinere und mittlere evangelische Kirchen und Gemeinschaften mit unterschiedlichen theologischen und ethischen Positionen, die versuchen, auf politischer Bühne Lobbyismus zu treiben.
Und eine katholische Kirche, die wahrscheinlich dezentraler organisiert ist als heute, sich aber immer noch als Teil einer Weltkirche versteht.