22. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2019

Fleischfresser in New York

von Erhard Crome

Der philosophierende Publizist Richard David Precht schrieb kürzlich über die SPD als „sterbenden Schwan“ im Angesicht ihrer Casting-Suche nach neuen Vorsitzenden: „Früher waren SPD-Kanzler Männer mit langer Vergangenheit und einem forschen Blick in die Zukunft. Sorgfältig aufgebaute Kandidaten mussten erst Bürgermeister von Frontstädten oder flutgebeutelten Hansestädten sein, bevor sie an die politische Front nach Bonn geschickt wurden, um sich der Propagandaflut ihrer Gegner auszusetzen. Heute dagegen wird kein SPD-Stahl mehr in der Schmiede des Lebens gehärtet. Nein, Vorsitzende werden in Castingshows rekrutiert nach dem Vorbild von Let’s Dance; billige Ranschmeiße an die Massenunterhaltung, die Stars für zehn Minuten kreiert, die morgen keiner mehr kennt.“ Nach diesen Showregeln „werden nicht Persönlichkeiten gesucht, sondern gemischtgeschlechtliche Paare“. Precht nennt dies „grünen Sexismus der übelsten Sorte“.
So gesehen war Sigmar Gabriel noch der letzte Vorsitzende alter Art. Er war immerhin fast acht Jahre, von 2009 bis 2017 SPD-Vorsitzender und seit der Bundestagswahl 2005 Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Sein Mandat hat er nun am 3. November niedergelegt.
Seine eigentlich kurze Zeit als Außenminister – von Januar 2017 bis März 2018 – scheint ihn am Ende am meisten interessiert zu haben. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2018 hatte er eine Grundsatzrede gehalten. Er betonte die Stärkung der Europäischen Union als wichtigste Aufgabe deutscher Außenpolitik. Der innere Zusammenhalt müssten gestärkt, ein gemeinsames Verständnis außenpolitischer Interessen hergestellt und Strategien und Instrumente entwickelt werden, „um diese Interessen gemeinsam durchzusetzen“. Seine Konsequenz hieß: „Europa braucht auch eine gemeinsame Machtprojektion in der Welt“. Die dürfe sich nicht „auf das Militärische allein konzentrieren“, könne darauf aber nicht verzichten. Damit schloss er dies aber ausdrücklich mit ein. Realpolitisch klang das dann so: „Denn als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.“ Deutschland solle auch weiterhin in der Welt militärisch agieren, auch wenn Gabriel einem eindeutigen Bekenntnis zur Steigerung der Rüstungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die die Kanzlerin und ihre Verteidigungsministerinnen den USA und der NATO zugesagt haben, geflissentlich ausgewichen ist.
China malte auch Gabriel im Grunde nur als „Gelbe Gefahr“ an die Wand. Obwohl er doch als eine weitere Bedrohung den „Protektionismus“ betont hatte – ohne die Politik des US-Präsidenten Donald Trump zu nennen, weil er die USA ja als zweiten Pfeiler des Westens beschwören wollte – und China auf diesem Felde der wichtigste Verbündete des Exportweltmeisters und seiner EU sein sollte.
In Bezug auf Russland bezog er differenziertere Positionen, vor allem im Vergleich zu seinem Nachfolger im Maßanzug. Er drehte zwar den Spieß um und meinte, Russland solle in Deutschland und der EU „auch etwas anderes erkennen als einen Gegner“ – während die ausgestreckte Hand Russlands nach dem Ende des Kalten Krieges mindestens dreimal ausgeschlagen wurde und die Verfeindung vom Westen ausging. Wesentlich aber war: Gabriel plädierte für ein besseres Verhältnis zu Russland und den schrittweisen Abbau der anti-russischen Sanktionen. Das betonte er auch bei einem Treffen mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow in München.
Das brachte Gabriel prompt scharfe Kritik der anti-russischen Fronde ein, von der CDU bis zur damals neuen Grünen-Parteichefin. Nachdem er dann aus dem Außenminister-Amt gedrängt war, betonte er in seinem Buch zur „Zeitenwende in der Weltpolitik. Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten“: „Die Zentralmacht Europas ist orientierungslos: Wirtschafts-, Sicherheits- und Migrationskrisen drohen sich zu einem ‚perfekten Sturm‘ zu bündeln“.
In der Lagebeurteilung folgte Gabriel den Ansätzen, die mit dem Strategiepapier „Neue Macht – Neue Verantwortung“ 2013 von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und vom German Marshall Fund (GMF) in Zusammenarbeit mit dem Planungsstab des Auswärtigen Amtes sowie im „Weißbuch“ der Bundeswehr 2016 umrissen wurden. „Der zunehmende globale Führungsanspruch Chinas“ sowie „die Machtansprüche Russlands“ würden zu „Verschiebungen in unserer Weltordnung“ führen, „mit unabsehbaren Konsequenzen“, und damit die „Werte“, den Wohlstand und die Sicherheit EU-Europas und des Westens bedrohen. Es gehe um eine „Systemkonkurrenz zwischen entwickelten Demokratien und Autokratien“. Und die könne der „Westen“ nur bestehen, wenn die EU und die USA zusammenstehen. Das bleibe, so Gabriels Botschaft in Richtung Trump-Administration, gemeinsames Interesse mit den Vereinigten Staaten von Amerika.
Nachdem es zunächst geheißen hatte, Sigmar Gabriel werde nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag den Spitzenposten beim Verband der deutschen Automobilindustrie übernehmen, wurde schließlich mitgeteilt, dass er zu der US-Denkfabrik Eurasia Group mit Sitz in New York geht. Das Unternehmen hat sich auf die Analyse von geopolitischen Ereignissen und die Bestimmung sich daraus ergebender Risiken spezialisiert. Im Januar jedes Jahres wird eine Liste mit den zehn größten politischen Risiken veröffentlicht, in einem Global Political Risk Index (GPRI) zusammengefasst werden. Als „Experte für europäische Angelegenheiten“ werde Gabriel hier „Einblicke in die sich rasant verändernde politische Landschaft der Region“ geben, teilte das Unternehmen mit Sitz in New York mit. Im Grunde wird so – neben der Kooperation von SWP und GMF – die enge Kooperation von Globalisten beiderseits des Atlantiks weiter vertieft.