22. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2019

Emy Roeder – wandelbar und stetig

von Klaus Hammer

Kann man denn der Behauptung widersprechen, dass niemand sich von Hans Purrmann, Karl Schmidt-Rottluff oder Erich Heckel eine so lebendige Vorstellung machen könnte, wenn es nicht die „Malerporträts“ von Emy Roeder gäbe? Bereits das Porträt ihres Künstlerfreundes Purrmann, 1943/44 schon in Florenz begonnen, aber erst 1950 gegossen, verhalf der 1949 aus der italienischen Quasi-Emigration zurückgekehrten Bildhauerin zu hohem Ansehen in der deutschen Nachkriegskunstszene. Das Ferne und Hintergründige von Purrmanns Wesen hat sie in dessen Büste herausgearbeitet, die dann 1955 auf einer der wegweisenden deutschen Nachkriegsausstellungen, der „documenta“ I in Kassel, als Beispiel für das „Menschenbild“ der Gegenwart galt. Noch aufwändiger war ihre Arbeit an dem kubisch und kantig gestalteten Kopf von Schmidt-Rottluff, der mit Rollkragen und sechseckiger Kappe dargestellt ist und von dem allein 10 unterschiedliche, in Bronze gegossene und ziselierte Exemplare existieren (1955/56 bis 1965). Das Gleichgewicht zwischen Naturvorbild und übersichtlicher Form war für die Bildhauerin nur durch ein vorsichtiges Herantasten zu erreichen. Während das Purrmann-Bildnis Vitalität und Entschlossenheit ausstrahlt, wirkt das Bildnis Erich Heckel (1951/52, Bronze) vergeistigt und der Wirklichkeit enthoben. Roeders „Malerporträts“ und auch ihr von den Altersspuren gezeichnetes Selbstbildnis (1958 und 1964. Bronze) nehmen einen hervorragenden Platz in der europäischen Bildnisplastik des 20. Jahrhunderts ein.
Der gesamte Nachlass der 1971 verstorbenen Bildhauerin und Zeichnerin befindet sich im Museum im Kulturspeicher ihrer Heimatstadt Würzburg, und 14 Jahre, nachdem Beate Reese zum Würzburger Jubiläumsjahr 2004 die Künstlerin im Kreis ihrer Zeit- und Weggenossen vorstellte, hat jetzt Henrike Holsing eine Retrospektive zusammengestellt, die schon in Würzburg und Mainz gezeigt wurde und nun im Georg Kolbe Museum Berlin zu sehen ist. Hier, im Kolbe Museum, wurde schon im vergangenen Jahr ein Ausschnitt ihres Schaffens in der Ausstellung „Die erste Generation. Bildhauerinnen der Berliner Moderne“ präsentiert.
War die 1890 in Würzburg geborene Emy Roeder zunächst mit den blockhaften, stilisierten Skulpturen von Bernhard Hoetger verbunden, so spielte dann die Auseinandersetzung mit dem Kubismus Archipenkos in ihren Mutter- und Kinder-Darstellungen eine größere Rolle. „Ich suche und taste nach dem Atem, dem Leben, nach dem jedem Dinge eigenen Leben“, so ihr Credo. Straff gebaut, in schnittiger Form, von äußerster Konzentration, jede Gefälligkeit vermeidend, die Gruppe “Stute und Fohlen“ (1919, Bronze). Mit ihrer „Schwangeren“ (1920, Nussbaumholz) hatte sie besonders auf sich aufmerksam gemacht: Aus dem eng anliegenden Gewand, das nur von den aufliegenden Händen zusammengehalten wird, wächst der Kopf wie aus einem Gefäß hervor. Die Darstellung der weiblichen Figur und dass sie weiterhin Themen der Mutterschaft, Kindheit und Jugend verfolgte, bescherten ihr Erfolg bis in die 1930er Jahre. Aber nur ein kleiner Teil ihres damaligen Werkes ist erhalten geblieben.
Die Zweiergruppen von Mensch und Tier, die „Schicksalsgemeinschaften“ gleichen, erwiesen sich schon früh als ideale Form, ihre Vorstellungen von Empfindsamkeit, Zuwendung und auch Verlorensein zu formulieren. In der Mütterlichkeit von Mensch und Tier erlebte sie das „Kosmische alles Seins“. Eine unmittelbare Anregung von Ernst Barlachs „Flüchtling“ (1920) empfing sie für ihre Zweifigurengruppe „Jüdische Flüchtlinge“, mit der sie 1924 den Schlusspunkt ihres expressionistischen Schaffens setzte.
Das Zeichnen wurde ihr erst Mitte der 1920er Jahre zum Bedürfnis, als sie sich stärker wieder dem Naturvorbild und einer gemäßigten Formensprache zuwandte. Zeichnungen, die mit sparsamsten Mitteln das Äußerste an Ausdruck brachten, konnten für sie Ausgangspunkt für bildhauerische Arbeiten sein, fanden aber auch ganz für sich ihr künstlerisches Interesse.
Auch wenn später das Kantige abgeschliffen und das Überstraffe entspannt wurde, hat sie doch die ihr eigentümliche scharfe Akzentuierung und den vergeistigten Ausdruck in der knappen Form nicht aufgegeben. Roeder formte scharfkantig stilisierte, das Modell immer noch expressiv, aber psychologisch charakterisierende Charakterköpfe. Der Bronzekopf der „Blinden“ (1927) – sie ist als „eine Kassandra des Volkes“ bezeichnet worden –: ihr Mund ist offen, aber sie spricht nicht; ihre Augen sind blind, aber sie sehen. Ihre Züge sind männlich und weiblich zugleich. Von vielen ihrer Porträtköpfe kann von einem nach innen gerichteten Wach-Sein gesprochen werden.
Selten bewegen sich ihre Gestalten, diese stehen, sitzen, liegen, einzeln und zu zweit. Es bedarf keiner Bewegungsgeste mehr, der eine Augenblick, der festgehalten ist, hat alles Vorher und Nachher in sich aufgenommen. Die Handlung ist ins Innere verlegt, das Ereignis liegt in der Tiefe des eigenen Schicksals, Mensch zu sein, nicht im äußeren Vorkommnis. Zwar löste sich die Bildhauerin nie gänzlich vom Naturvorbild, im Interesse der eigenen Gestaltungsabsichten verformte sie jedoch oft Proportionen, Körpergrundformen und –details ihrer auf Wirkung im Raum orientierten Figuren.
1933 hatte Roeder Berlin verlassen und war nach Italien gezogen, um dort frei vom politischen Druck der Nazis zu arbeiten. 1936 erhielt sie ein Stipendium der Villa Romana in Florenz, die in jener Zeit von Hans Purrmann geleitet wurde. 1937 wurde ihre Plastik „Die Schwangere“ beschlagnahmt und in der Nazi-Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ in München gezeigt. In einem Akt der Rehabilitation konnte die Holz-Version 1955 auf der ersten „documenta“ wieder vorgestellt werden. Aber auch die verloren geglaubte Terrakotta kam dann 2010 als Kopffragment durch den „Berliner Skulpturenfund“ wieder zum Vorschein und kann nun gezeigt werden.
Die Künstlerin formte nun wieder plastische Akte wie „Stehendes Mädchen mit Tuch (Pariserin)“ (1934, Bronze), seit 1937 entstand eine ganze Serie von „Badenden“. In ihrer Florentiner Zeit konnte sie ihre Plastiken im Wachschmelzverfahren in Bronze gießen lassen. Sie begleitete also den Guss von Anfang bis zum Ende. Stärker als zuvor widmete sie sich, der italienischen Bronzegusstradition entsprechend, dem Detail, das sie teilweise grafisch nachzeichnete.
Nach der Besetzung Italiens durch die Alliierten 1944 wurde sie als Deutsche in einem Lager bei Padula in Süditalien interniert. In unbemerkten Augenblicken hielt sie die sich duschenden Frauen und Mädchen in Skizzen fest, nach denen sie dann in Rom, wo sie bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland 1949/50 blieb, an den Padula-Reliefs arbeitete. Hier ließ sie auch die in Castel S. Pietro, einem Bergdorf in den Albaner Bergen (in das sie auch später immer wieder zurückkehren sollte) entstandene Plastik „Einsame“ von 1946 gießen, das die Not ihrer italienischen Jahre verkörpert. In der Geschlossenheit der Form könnte sie die gleiche symbolische Bedeutung wie Barlachs Holzskulptur „Das schlimme Jahr“ von 1936 haben. Dagegen werden die „Campanischen Bergziegen“ (1948, Bronze) durch härtere Grate, intensive grafische Oberflächen und eine stärkere Stilisierung geprägt.
Emy Roeder kehrte 1949 nach Deutschland zurück, und zwar nach Mainz, wo ihr ein Atelier zur Verfügung gestellt und ein Lehrauftrag an der Landeskunstschule erteilt wurde. Schnell wurde sie, der in der Nazizeit „vergessenen Generation“ angehörend, zu einer die Nachkriegszeit prägenden Künstler-Persönlichkeit. Ihrer ersten Einzelausstellung 1950 in Bonn folgten viele weitere, öffentliche Aufträge kamen hinzu, Reisen führten sie bis nach Tripolis in Nordafrika, nach Kairo und Tunesien. Figuren in starker Vereinfachung und Archaik – sie scheinen wie Linien in den Raum gezeichnet zu sein – markieren die bemerkenswerte Kontinuität einer unbeirrbaren Künstlerin, die dennoch immer wieder zu Wandlung und Veränderung fähig war. Bis kurz vor ihrem Tod 1971 arbeitete sie noch an dem Tonmodell ihrer letzten Plastik, den „Tunesischen Bettlerinnen“, die erst 1973 gegossen wurde.

Emy Roeder. Bildhauerin und Zeichnerin – Das Kosmische allen Seins, Georg Kolbe Museum Berlin, Sensburger Allee 25, tägl. 10–18 Uhr; bis 12. Januar. Katalog 24.90 Euro.
Zugleich zeigt das Kolbe Museum „Figuren der fließenden Welt“ – die phantastischen Werkzyklen der japanischen Künstlerin Asana Fujikawa in Konfrontation mit des Briten David Hockneys Bildserie „Six Fairy Tales from the Brothers Grimm“ von 1969.