22. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Forschungsprojekt Neonazis, ein Goethe-Kundiger, eine Spielerei mit Identitäten …

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Natürlich bleiben die Bauleute im Areal des Berliner Ensembles. Auch noch nach Einweihung des alten Proben- und Verwaltungsgebäudes zum funktionalen, allerweltsmodisch grau-schwarz-weiß ausgepinselten Studio Neues Haus. Und es wird noch eine ganze Weile dauern, bis die Vision Wirklichkeit wird vom BE-Parcours mit Hofidyll, Garten, Gastronomie unter alten Bäumen und einem wieder lauschigen Vorplatz, auf dem – seit Jahren umrahmt von staubiger Leere – noch immer das Denkmal vom freundlichen Brecht uns grüßt.
Ansonsten aber funktioniert – zumindest technisch – der feine neue Laden (Kosten: 5,5 Millionen Euro). Zum Opening gab es allerdings kein Drama, kein großes Stück, sondern das kleine, dafür hoch politische Projekt „Mütter und Söhne“. Es geht um das gesellschaftliche Abdriften nach rechts. Anders gesagt, um das Einsickern des rechten Denkens in die gesellschaftliche Mitte.
Besagtes Projekt ist eine Recherche-Arbeit der Autorin und Regisseurin Karen Breece, die Jungnazis und deren verzweifelte Familien beobachtete. Ihre journalistisch zusammengetragenen Informationen hat sie „mehrfach überschrieben und zu einem Theatertext geformt“.
Und diese Überschreiberei, diese Formung ist das Problem; denn nichts wurde dadurch packender, tiefgründiger. Die vielen befragten Originale verschmelzen halt zu vier Figuren: eben zwei Mütter, zwei Söhne, die leider nur allzu allgemein bleiben. Und so zum Quartett propagandistischer Schablonen mutieren: Mama eins als weinerliche Hysterika (Corinna Kirchhoff), Mama zwei als aggressiver Wutbatzen (Bettina Hoppe); zwei Mütter, zwei perfekt erregte Klageweiber („Mein Sohn ein Nazi. Und ich liebe ihn dennoch.“). – Neben diesen beiden der Sohn Nr. 1 als grölendes Hakenkreuz (Nico Holonics) sowie Sohn Nr. 2 als die etwas weichere, reflektiertere Variante (Oliver Kraushaar); zusammen zwei gewaltgierige, die Welt hassende, nach neuer Führung lechzende NS-Jungmänner.
Diverser Kommentare (Videos, Fremdtexte) enthält sich Breece bei der hilflosen Inszenierung ihrer eigenen, dramaturgisch so diffusen Vorlage. Stattdessen infernalische Musikeinspieler und als theatralische Garnierung donnernde Saalschlachten zwischen gefühlt tausend Stühlen, die das Spielfeld füllen. Und obendrein noch einige Portionen Mitmachtheater (Stühle aufräumen – das Publikum als die betroffene Gesellschaft; gemeinsames Absingen der Brandenburg-Hymne). Ziemlich peinlich und qualvoll für alle.
Wenn denn schon ein solch ehrenwertes 90-Minuten-Projekt, dann doch bitte ganz sachlich als korrekte Dokumentation, ohne Vertheaterung. Der trotz seiner Kürze und thematischen Brisanz langweilende Abend wäre noch akzeptabel als Teil eines politischen Diskursprogramms. Breeces „Theaterstück“ aber steht frei im Repertoire. Ohne Publikumsgespräche sollte das nicht laufen.

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Immerhin, er war schon Anfang 40 und hatte große Werke hinter sich: „Werther“, „Götz“, „Egmont“, „Iphigenie“, „Tasso“, die „Römischen Elegien“, die Anfänge vom „Faust“ sowie allerhand Farcen und Fastnachtspiele; sogar den Zwischenkieferknochen hatte er bereits entdeckt. Da erst berief der Weimarer Herzog seinen Geheimen Rat von Goethe auch noch zum Chef des Hoftheaters. Dort plante er Großes, freilich für kleines Publikum mit kleinen Schauspielern und wenig Wirkung. Spitze Zungen lästerten schnurstracks „Hofdilettantentheater“, das über monoton pathetische Deklamation nicht hinauskäme.
Bei Amtsantritt immerhin annoncierte Herr Goethe strenges Reglement. Von seinen Schauspielern verlangte er gutes Benehmen, auch privat; und im künstlerischen „idealen Anstand“. Der Spieler soll „bei leidenschaftlichen Szenen nicht kunstlos hin und wider stürmen, sondern das Schöne zum Bedeutenden gesellen. Die Finger müssen teils halb gebogen, teils gerade, aber nur nicht gezwungen gehalten werden. Die beiden mittleren Finger sollen immer zusammenbleiben, der Daumen, Zeige- und kleiner Finger etwas gebogen hängen …“ Auch müsse der Oberarm immer an den Leib anschließen; Dialekt sei zu meiden, Aussprache habe deutlich zu sein, „mit kleinen Pausen an jedem Versanfang“. Darüber hinaus gibt es genaue Anweisung über die Handhabung von Spazierstock oder Schnupftuch.
Klar, der Chef will Versdramen, will klassisches Theater, was den Schauspielern ungewohnt, ja verhasst ist. Allein schon das Einüben der Verse mit auf- und abgeschwenkten Armen oder mit dem Taktstock! Als Regisseur war er ziemlich brutal, unziemliches Verhalten im Publikum verbat er sich („Man lache nicht!“). Und das praktikable Zurechtrücken seiner überlangen Stücke überließ er dem Kollegen Schiller; dramaturgische Klein- und Fließarbeit war seine Sache gar nicht. Er war nicht wirklich ein Theatermann, ihm fehlte es an Hingabe, ja Besessenheit. Karl August, der aristokratische Finanzier, verlangte Possen, also gab man ungeniert reichlich Possen, um die Bude voll zu kriegen. Daneben ein bisschen Welttheater mit Shakespeare, Calderón, auch Schiller. Alsbald jedoch war Goethe der Sache überdrüssig. Nach fünf Jahren gab er auf.
Goethe als Theatermacher – keine Erfolgsgeschichte, und schon so gut wie vergessen. Erst jetzt wieder stieß ich auf des Staatsministers Dilettantenstadel. Und zwar beim immer wieder so genuss- wie aufschlussreichen Schmökern in Richard Friedenthals bedeutender Goethe-Biografie von 1963 – ein epochales 700-Seiten-Werk bei Piper-Taschenbuch, ein „Höhepunkt abendländischer Geistesgeschichte“, so die damalige Kritik.
Friedenthal, 1896 in München geboren und 1938 in die Emigration nach London vertrieben, starb vor vierzig Jahren am 19.Oktober 1979 in Kiel – wir gedenken seiner in dankbarer Verehrung. – Sein „Goethe“ steht neben Biografien über da Vinci, Luther, Jan Hus oder Karl Marx. Und alle bringen bewundernswert das Persönliche mit der jeweiligen Epoche in eins.

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Könnte es nicht ein bisschen – oder könnte es gar ganz anders sein, das Bild, das wir haben von uns selbst? Schöne Frage. Und wohl jeder hat sie sich gestellt, gelegentlich, ganz insgeheim. Oder lauthals und ständig. Denn nichts ist wirklich gewiss auf dieser Welt. Und mit unsereins, uns Menschenkindern, gleich gar nicht.
Vom Verwischen, Verrutschen, vom Verlust alter und vom Erhalt neuer Gewissheiten, vom Schwanken, vom Hin und Her und von den sich damit ändernden oder wechselnden Lebensumständen, Lebensansichten, Daseinsmöglichkeiten, von Freiheitsgewinn oder Einschränkung, von all dem erzählt die englische Autorin Virginia Woolf in ihrem berühmten, 1928 erschienenen, jetzt von der Schaubühne Berlin adaptierten Roman „Orlando“.
Ein höchst intelligentes, raffiniert komponiertes, ein sprachlich so feines wie starkes, ein witzig-ironisches und obendrein aufklärerisch-kühnes Wunderwerk. Es nimmt die Ängste und Zweifel mit unserem Selbst-Bild durchaus ernst. Und macht uns zugleich locker, die Auflösung starrer Kategorien, Zuschreibungen, Einbildungen, Fixierungen bis hin zum Geschlechtlichen mutig zuzulassen, zumindest aber lustvoll damit umzugehen.
Virginia Woolf (1882–1941) eine charmant frivole Mutmacherin für Freigeister, für vorurteilsfreie Selbstbefragung, für Aufbrüche zu neuen Ufern, die seelische oder soziale Einbrüche freilich nicht ausschließen, denn alles hat seinen Preis. Doch die Autorin singt weise das optimistische Hohelied siegreicher Selbstentgrenzung.
Schließlich ist „Orlando“ ein fantastisches Buch: Nämlich die Biografie eines nie wirklich alternden englischen Edelmanns über vier Jahrhunderte hinweg, den es zu spektakulären Schauplätzen und in ebensolche Liebschaften durch die Welt treibt und der schließlich zur Frau wird. Er/Sie erlebt an sich selbst Prozesse der Wandlung – und diese zugleich an seinen Mitmenschen, an Regimen, Denksystemen, Sitten und Gebräuchen, am Zeitgeist, am Wetter oder am politischen Klima. Und er/sie erfährt, was eine Frau darf und ein Mann nicht und umgekehrt. Alles fließt, ist divers und entsteht neu in unseren Köpfen – heutzutage erst recht ein dominantes Thema.
Das wie geschaffen ist für die Regisseurin Katie Mitchell, die zusammen mit Alice Birch „Orlando“ für die Berliner Schaubühne neu gefasst hat. Denn Mitchells Spezialität ist, diese Bühne in ein milieugerechtes Filmset zu verwandeln, womit das Publikum zum Beobachter wird, wie die Schauspieler (Jenny König sympathisch durchtrieben und schlau in der Titelrolle), wie die ganze famose Truppe zurechtgemacht und vor die vielen Kameras in den zahlreichen Szenenbildern positioniert wird. Dann wird das Gemachte von Videoleuten kunstvoll gefilmt. Das perfekte Ergebnis kann man zeitgleich auf einer hoch über allem gespannten Leinwand betrachten. Wie im Kino.
Eine frappierend possierliche Verfremdung, die demonstriert, dass eben alles hergestellt, alles arrangiert ist von Menschenhand. Wir kapieren: Es könnte alles auch anders sein. Nichts ist gewiss. Und – im gegebenen Fall – voller Witz, Allotria, Scherzhaftigkeit. Toll. Einerseits.
Anderseits: Die Tollheit und auch Abgründigkeit des Romans wird bloß angetippt. Sensible Betrachter mögen gelegentlich stöhnen über das Gefriemel und Gewusel der Filmemacherei, das eine gewisse Betulichkeit verbreitet und dem Woolfschen Sound das Scharfe und Spitze nimmt. Das stört nicht grundlegend das Amüsement über die fliegenden Wechsel der historisch korrekten Kostüme und Kulissen, Zeiten und Schauplätze, aber es entspricht bei weitem nicht der Tiefe, Komplexität und Dynamik der literarischen Vorlage, die zur Hand zu nehmen man nicht versäumen sollte.