von Thomas Zimmermann
Der terroristische Anschlag mit zwei Todesopfern im Paulusviertel zu Halle an der Saale ereignete sich am 9. Oktober. Unser Autor wohnt im Paulusviertel und notierte noch während des Geschehens seine Eindrücke.
Die Redaktion
Die Verkäuferin schließt die Glastür der Fleischerei zu. Dann lehnt sie ein Schild in das Schaufenster. „Wegen der aktuellen Lage geschlossen.“ Was genau die aktuelle Lage ist, weiß hier niemand. Nur eins: Draußen gab es einen Anschlag auf die benachbarte Synagoge, zwei Tote sind zu beklagen, die Polizei hat alle Anwohner aufgefordert, im Haus zu bleiben. In der Fleischerei sitzen die Mittagsgäste fest: Bauarbeiter, Studenten, Laufkundschaft.
Draußen herrscht gespenstische Stille. Die sonst so lebhafte Straße – benannt nach dem Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky – ist menschenleer. Sie liegt mitten im Sperrgebiet: Im Norden wurde vor der Synagoge geschossen, im Süden wurde ein Dönerimbiss mit Granaten beworfen. An beiden Orten starb ein Mensch. Jetzt ist das Paulusviertel in Halle (Saale) von beiden Seiten abgeriegelt, die Ossietzky-Straße liegt mitten im Sperrgebiet.
Unablässig dringen Nachrichten über die sozialen Netzwerke zu den Menschen in der Fleischerei. Sie widersprechen sich immer wieder: Ein Flüchtling aus Libyen soll festgenommen worden sein. Später heißt es, der Täter stamme aus dem rechtsextremistischen Milieu. Mal soll er über die Autobahn nach Leipzig, mal mit einem Taxi in eine benachbarte Kleinstadt geflüchtet sein. Oder ist er vielleicht doch noch hier im Viertel irgendwo?
So unterschiedlich die Meldungen, so widersprüchlich die Reaktionen. „Seit der Flüchtlingskrise ist hier nichts mehr sicher!“, meint einer. Und ein anderer: „Wenn du nicht mal bei dir zu Hause sicher bist …“ Rufe nach einer Bürgerwehr werden laut. Man bedauert, wie viele Waffen in Deutschland kursieren, und fordert doch mehr Waffen zum Selbstschutz. „Das Problem ist, dass du mit einem kleinen Waffenschein eigentlich gar nichts haben darfst. Und wenn du jemanden mit einer illegalen Waffe in Notwehr umnietest, dann kriegst du noch eine Anzeige wegen unerlaubtem Waffenbesitz.“ Die Verkäuferin gibt Kaffee auf Kosten des Hauses aus. Das Radio spielt unbeeindruckt die aktuelle Playlist ab.
Bald steigt die Unruhe. Das Warten auf so engem Raum zermürbt. Eine Frau möchte ihr Kind aus dem Hort abholen, die Arbeiter wollen nach Hause. Vorsichtig schließt die Verkäuferin die Tür auf. Die Straße liegt verlassen da, aber jede Abzweigung endet vor einem Absperrband, an dem vermummte Polizisten stehen. Hier geht es nicht durch. „Aber ich wohne gleich um die Ecke!“, erklärt jemand und wird doch abgewiesen. Schon rufen die Einsatzkräfte: „Haut ab da, los!“ Der Straßenzug ist vollkommen abgeriegelt. Einige geben auf und ziehen sich wieder in die Fleischerei zurück. Ein paar wenige bleiben ratlos an einer kleinen Gartenmauer stehen, sie rauchen und sehen den Reportern zu, die vor laufender Kamera die Polizisten befragen. „Wie in Damaskus“, sagt jemand. Ein anderer nickt: „So unreal.“
Nicht jeder im Paulusviertel weiß, dass sich hier eine Synagoge befindet. Die einstige Einsegnungshalle am jüdischen Friedhof hat die sogenannte Reichskristallnacht überlebt: Während die ursprüngliche Synagoge in der Innenstadt in Flammen aufging, überdauerte die nun als Gotteshaus genutzte Halle im orientalischen Baustil unversehrt hinter hohen Mauern. Die einst große Gemeinde konnte sich in der DDR nicht von dem Aderlass durch Emigration und Deportation in den Nazi-Jahren erholen. Erst durch den Zuzug von Glaubensbrüdern aus Russland und der Ukraine wuchs die Gemeinde in den neunziger Jahren wieder auf mehrere hundert Mitglieder an. Einige von ihnen sprechen kein Hebräisch, einige nur gebrochenes Deutsch. Man ist bemüht, die Friedhöfe der ursprünglichen Gemeinde zu pflegen, die Synagoge als Denkmal im Stadtleben zu verankern. Dafür arbeitet die Gemeinde eng mit der hiesigen Universität zusammen. Es ist ein eher kulturell-intellektueller Austausch mit akademischen Kreisen, das eigentliche jüdische Leben wird für viele Hallenser nicht sichtbar.
In der Fleischerei spielt das keine Rolle. „Das kann doch nicht sein, dass dich jemand auf offener Straße abknallt“, heißt es fassungslos. Ob das Opfer jüdisch war oder nicht, wird nicht zum Thema. Man fühlt sich verunsichert, kollektiv bedroht – und stigmatisiert. „Pass auf, jetzt schreiben sie wieder, dass die Ossis alle Nazis sind.“
Weiter unten in der Ossietzkystraße liegt die Colonne Morris, das einzige Café in der Umgebung. Es ist das Herzstück des Paulusviertels: Chai latte mit Hafermilch, abgewetzte Sessel, gedämpftes Licht, Plakate von Kunstausstellungen an den Wänden. Halle ist stark gentrifiziert, das Paulusviertel gilt als Wohnort für Studenten und Akademiker, nobel, alternativ und auch etwas versnobt. Auf einem zentralen Hügel überragt die namensgebende Pauluskirche strahlenförmig abgehende Straßenzüge, die von stuckbehangenen Häusern aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende bestanden sind. Linden säumen die Kopfsteinpflasterstraßen. „I believe in true Love“ ist das häufigste Graffito.
Die Kellnerin im Café hat die Tür abgeschlossen, die Fenster im Raucherzimmer stehen dafür weit offen. Wenige Gäste sitzen an den Tischen. Keiner liest Zeitung, keiner spricht. Man hält die Gläser mit beiden Händen umschlungen, wie um sich zu wärmen, und stiert vor sich hin. Man ist vom Warten zermürbt, vom Geschehen entsetzt. „5,60“, sagt die Kellnerin, als einer gehen will. Das Klappern der Münzen auf dem Tresen zerbricht die Stille. „Du willst da wirklich raus?“, fragt eine Frau am Rundtisch in der Ecke. Der Mann lächelt entschuldigend. „Ich muss. Der Kindergarten macht zu. Kann ja meine Tochter nicht alleine nach Hause gehen lassen.“
Die Kellnerin schließt auf. Für einen kurzen Moment bleibt sie in der Tür stehen und sieht auf den leeren Platz. Am Ende der Straße, fünfzig Meter weiter, befindet sich der Dönerladen. „Wann wir wohl wieder raus können?“, fragt der Mann und schließt sein Rad ab. „Keine Ahnung“, meint sie. „Ist auch egal. Ich denke nicht, dass heute noch irgendjemand großartig rauskommen wird.“
Der Mann nickt, dann schiebt er das Rad unter den Bäumen entlang. Ob er bis zum Kindergarten kommt, ist ungewiss. „Viel Glück!“, ruft die Frau hinterher, als sie schon nicht mehr zu hören ist.
In der Fleischerei, wenige Meter weiter, meldet das Radio, dass ein Täter in Richtung Berlin fliehe. „Gleich vom Hubschrauber aus eine Granate draufschmeißen!“, fordert jemand. „Der würde bei mir nicht mal bis nach Magdeburg kommen. Aber die Polizei darf ja nichts.“ Zustimmendes Knurren. Es herrscht hier viel Verbitterung, viel Unzufriedenheit, vor allem aber eine lähmende Ohnmacht. Immer wieder kommt der Wunsch auf, etwas tun zu können, um die Straßen sicherer zu machen, der Bedrohung endlich Einhalt zu bieten. „Ich hätte den einfach über den Haufen gefahren, einfach draufhalten und weg“, sinniert einer und bestellt noch einen Kaffee.
Draußen setzt Regen ein. Seit Stunden sitzt man nun hier fest und ahnt: Auch wenn der oder die Täter gefasst werden, ein Ende wird es damit trotzdem nicht geben.
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