von Ingeborg Ruthe
Die Gilde-Kompanie von Kapitän Frans Banning Cocq und Leutnant Willem van Ruytenburgh schickt sich an, auszurücken: 34 Personen – davon 18 Schützen – und 16 weitere Figuren hat Rembrandt im Jahr 1642 auf die riesige Leinwand gesetzt. Im Vordergrund der Hauptmann und sein Leutnant, zwei hell leuchtende, kampfentschlossene Männer in gelber Uniform, dann, im Mittelgrund, ein zartes Kind, die Tochter des Anführers? Und ganz hinten, mittig und dafür wäre hier eine Lupe nötig, der Kopf des Malers selber, selbstredend mit Barret, dem stolzen Attribut des epochalen Malers: Rembrandt van Rijn, geboren 1606 in Leiden, Sohn eines Müllers und einer Bäckerstochter, gestorben 1669 in Amsterdam.
Er war das Genie seiner Zeit, der „goldenen“ Blütezeit der Niederlande, als die Seefahrer- und Handelsnation auf der großen Welle der Kolonialisierung ferner Länder schwamm und unfassbar reich und mächtig wurde. Kein anderer hätte damals eine Bürgerwehr so gemalt wie Rembrandt. Er lieferte kein bieder-repräsentatives Gruppenporträt, sondern setzte dramatisch in Szene: wütend kläffender Hund, gezückte Waffen, Trommeln. Das Rebellische machte den begnadeten Menschenbeobachter zum Erneuerer der Malerei, zum Licht-und-Schatten-Virtuosen.
Es ist Rembrandt-Jahr. Vor allem in der Heimat des Nationalheiligen bleibt 2019 kein Auge unberührt von Ausstellungen zum Gedenken an den am 4. Oktober vor 350 Jahren Dahingegangenen. Im Rijksmuseum, dem Haus mit dem weltweit größten Rembrandt -Bestand, begann schon im Sommer die größte „Operation“, die jemals dem intensiv durchleuchteten, vielbefragten, vielinterpretierten Lebenswerk des einstigen Schülers von Pieter Lastmann galt.
Die „Nachtwache“ von 1642, sozusagen der Hochaltar des Rijksmuseums, Rembrandts gewaltigstes Werk und einst Auftrag der Amsterdamer Kolveniers-Gilde, wird öffentlich restauriert. Eine Show hinter Glas. Vor den Augen des Publikums scannen Computer die Geheimnisse des wenig schadhaften, jedoch in den Jahrhunderten sehr nachgedunkelten Bildes. Nie hat jemand an der Autorenschaft dieses kapitalen Gemäldes gezweifelt, einige andere indessen wurden vom gestrengen Rembrandt Resarch Project abgeschrieben als Werkstattarbeit. So erging es dem „Mann mit Goldhelm“ der Berliner Gemäldegalerie; das schmerzt bis heute.
Unbezweifelt ist die .Anatomie des Dr. Tulp“, 1632 – Frühwerk und Kronschatz des Den Haager Mauritshuis. Gerade in der Figur des Toten – ein hingerichteter Mörder – lässt der damals erst 25-Jährige bereits das typisch Rembrandteske erkennen: das Abschatten von Gesichtern, das als Andeutung des „Schatten des Todes“ (umbra mortis) immer wieder auftaucht. Ablesbar ist der zeremonielle Charakter der Totenöffhung. Die Herren Chirurgen tragen ihre Festtagsröcke, Dr. Tulp, der Ranghöchste, sogar seinen Hut. Irritierend ist die anatomische Verlängerung der geöffneten linken Hand des Delinquenten. Rembrandt malte dieses Auftragswerk der Amsterdamer Chirurgen-Gilde in einer Epoche gewaltiger geistiger Umbrüche. Die sich emanzipierende Naturwissenschaft stellte althergebrachtes Wissen infrage. Der Drang, die Dinge neu zu sehen, zu „sezieren“, erfasste auch die Kunst. Und die öffentliche Sektion in .Anatomischen Theatern“ wurde zum Spektakel; das Publikum zahlte Eintritt.
Rembrandt war ein Wahrheitssucher. Dazu ein Geschichtenerfinder. Seine bezwingenden Selbstporträts erleben wir heute wie Selfies, gemalt oder mit nervösen, kratzigen Strichen gezeichnet, Erforschungen seines eigenen Gesichts im Spiegel. Einst jung, tollkühn, seiner Kräfte bewusst. Dann im Alter vom Leben gezeichnet, schmerzhaft wissend, wie sehr doch am Ende aller Ehrgeiz umsonst ist, Bedeutung nur noch Schaum auf der Welle und aller Ruhm wie ein Ross, das ohne Reiter vorm Höllentor ankommt.
Alles auf Rembrandts Bildern, Zeichnungen, Grafiken – in jungen Jahren feinmalend realistisch und im Spätwerk mit furios-lockerem, breitem, fleckendem Pinselduktus und Farbe, die mitunter rau und ungefällig wie mit der Mauerkelle aufgetragen wirkt – folgt einer Regie. Der mit Licht und Dunkel bis zur Perfektion inszenierende Maler gelangte vor allem schon beizeiten hin zum zutiefst Menschlichen, ohne Scheu vor düsterer Melancholie, vor Verfall, ja Hässlichkeit. Er machte zum Bild, was er sah, porträtierte, mit und ohne Auftrag: die Patrizier seiner Zeit, die Protagonisten der mächtigen Gilden, die Amtsträger und ihre schmuckbeladenen Damen, die stolzen Bürger Amsterdams, nicht zuletzt Gleichnisse aus der Bibel.
Rembrandt erforschte zeichnend, radierend, malend sich selbst und seine Umwelt. Er tat es schonungslos: die verhärmte Mutter, seine schöne, jung gestorbene Frau Saskia, Sohn Titus, der nicht alt wurde, die getreue Hendrickje Stoffels, bauernmädchen-derbe Magd und spätere Gefährtin und Muse, grobe Marktweiber, Bettler und Vagabunden, all die Mühseligen und Beladenen. Und er sah tiefer, hinter die Erscheinung, erfand dazu. Er stellte eine lebhafte Interaktion zwischen Figuren und Historienambiente oder alltäglichen Orten her. Das Erneuernde, das er in die Kunst brachte, war das Dialogische. Und Phänomen der Reflexion: Akteure stellte er einander gegenüber, oft in Rückenansicht, zum einfallenden Licht hin.
Rembrandt brachte in die Welt der Künste eine Befragung des Menschlichen schlechthin ein, das, was in der Renaissance noch nicht da war, bis zum Intimsten. Fast wird man beim Betrachten zum Voyeur. Als er krank und wegen der Insolvenz verarmt starb, war in Europa der fleischige Stil Rubens en vogue und dann der Klassizismus. Moden aber verweigerte er sich. Und dann, ab dem 19. Jahrhundert, avancierte Rembrandt in seiner Heimat posthum zum Nationalhelden. Der Licht-Dunkel-Magier ist der Superstar des 17. Jahrhunderts. Rembrandt war für die Niederlande, was einst Shakespeare für England bedeutete.
Berliner Zeitung, 28./29.09.2019. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.
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